»Organisierter Kapitalismus«

Eine neue und alte Herausforderung für die LINKE

  • Edelbert Richter
  • Lesedauer: 5 Min.

»Die Besitzergreifung von sechs Berliner Großbanken würde ja heute schon die Besitzergreifung der wichtigsten Sphären der Großindustrien bedeuten und … die Politik des Sozialismus in ihren Anfängen außerordentlich erleichtern.« So Rudolf Hilferding, der große Theoretiker der Sozialdemokratie in seinem Buch »Das Finanzkapital« vor rund 100 Jahren! Selbst wenn ihn in der heutigen SPD noch jemand zur Kenntnis genommen hat, hätte dieser Satz bei ihm vor einem halben Jahr wohl nur Belustigung hervorgerufen. Inzwischen jedoch fände er ihn sicher nicht mehr lustig, sondern eher irritierend, vielleicht sogar bemerkenswert. Denn plötzlich steht seine Partei ja vor der Frage, wie viele Banken es noch sein werden, die der Staat wird stützen müssen und von denen er womöglich sogar »Besitz ergreifen« muss. Das Irritierende daran ist unter anderem: Der Genosse braucht jetzt nicht mehr darüber nachzudenken, ob er den Begriff »Sozialismus« noch im Parteiprogramm stehen lassen sollte oder lieber nicht, denn der Kapitalismus selber bringt das Thema wieder auf die Tagesordnung!

Freilich verfügt unser Genosse schon lange nicht mehr über das Vertrauen in die staatliche Vernunft, das seine Vorväter noch hatten. Aber das Vertrauen in die Vernunft des Marktes, das er gerade unter Schröders Führung in einem schmerzhaften Lernprozess noch vertieft hat, wird ihm nun auch genommen! Was bleibt ihm jetzt überhaupt noch, worauf er vertrauen kann? War es nicht eine unverzeihliche Fehleinschätzung der historischen Situation durch die Parteiführung, gerade kurz vor dem Zusammenbruch der Marktreligion sich ihr mit ganzem Herzen anzuschließen?

Eine aus der Not geborene Tugend

Entsprechend ist ihm der Organisations- und Planungsenthusiasmus der alten Sozialdemokratie längst abhanden gekommen. Aber war das überhaupt ein naiver Enthusiasmus oder nicht vielmehr eine aus der Not geborene Tugend, nämlich einer Not, wie wir sie ganz ähnlich gerade wieder erleben? Es war die erste wirkliche Weltwirtschaftskrise, die nach einer Spekulationsorgie 1873 mit einem Börsencrash begann! Sie führte dazu, dass man sich in Deutschland vom Liberalismus abwandte und zu einer Ordnung überging, die Hilferding dann als »organisierten Kapitalismus« beschrieben hat. Das war gewiss nicht (wie er oft missverstanden wird) einfach eine Vorstufe des Sozialismus, aber eine so klare Zuspitzung der Widersprüche des Kapitalismus (mit der Tendenz zu imperialistischer Politik!), dass der Schritt zur Revolution ganz logisch erschien.

Ist nun die Beobachtung völlig abwegig, dass die gegenwärtige Rettungsaktion für die Banken bemerkenswerte Parallelen zu der damaligen Zuspitzung aufweist? Zwar ist heute von einer sozialistischen Alternative nur ironisch die Rede, aber die Fragen, die angesichts der Aktion gestellt werden, weisen ja durchaus in diese Richtung: Warum sollen wir – das Volk – den Banken und Bänkern, die unser Geld so miserabel verwaltet haben, nun mit noch mehr Geld aus der Patsche helfen? Unser Geld ist es, weil wir es erwirtschaftet haben. Oder sind es nicht die Arbeitnehmer gewesen, die viele Jahre niedrigere Löhne und Sozialleistungen hinnehmen mussten, damit Deutschland als Exportweltmeister gut verdienen konnte?

Diese Exportorientierung auf Kosten der Binnennachfrage ist übrigens auch schon vor dem Ersten Weltkrieg deutsche Strategie gewesen. Es kommt aber heute etwas hinzu, was Hilferding damals bereits als überholt ansah: die Spekulation. Die Banken und Bänker haben ja nicht nur gegenüber der Gesellschaft versagt, sondern auch als Marktteilnehmer, in ihrem eigenen Geschäft! Sie sind ja nicht bei realen Investitionsvorhaben gescheitert, wofür wir noch Verständnis hätten, sondern im globalen Spielkasino. Sollen wir noch mehr Geld hergeben dafür, dass das Spielkasino gedeihen kann?

Ein System, das sich selbst gefährdet

Die offizielle Begründung ist, dass uns nichts anderes übrig bleibe, weil das System in Gefahr sei. Ja eben, würde Hilferding antworten, das ist es doch, was ich schon vor 100 Jahren gesagt habe: Es ist ein System, das sich selbst gefährdet, sogar zum Selbstmord neigt. Und vor dem Selbstmord muss man es zwar bewahren, aber doch nicht, indem man der Neigung dazu neue Nahrung gibt!

Einzelnen Großbanken müsse geholfen werden, weil sonst womöglich alles zusammenbricht. Ist das nicht ein glänzender Beleg für Hilferdings These, dass die klassische Konkurrenz längst Vergangenheit ist und – jedenfalls im Finanzsektor – alle miteinander vernetzt und undurchschaubar verquickt sind? Der Witz der (fairen) Konkurrenz ist ja genau umgekehrt dafür zu sorgen, dass alle gewinnen, indem einzelne Inkompetente, Spieler oder Kriminelle vom Markt verschwinden.

Da es somit im Finanzbereich ohnehin keinen funktionierenden Wettbewerb mehr gibt, ist es gar kein Wunder, wenn der Ruf nach dem starken Staat laut wird. Auch das ist schon bei Hilferding nachzulesen. Es ist durchaus kein Widerspruch, dass genau die, die den Staat erst möglichst klein machen wollten, nun nach ihm rufen. Denn es sind zwei verschiedene Varianten von Staat gemeint: einmal der, der die Schwachen stärkt – der muss klein gemacht werden; das andere Mal der, der die Starken stärkt – der wird gebraucht. Und nachdem die Möglichkeiten, den Sozialstaat abzubauen, offenbar nicht mehr ausreichen, wird der Staat nun von der Finanzwelt benutzt, um die Gesellschaft im Grunde zu erpressen.

Mal sehen, wie lange sich die Bürgerinnen und Bürger das gefallen lassen! Jedenfalls kann das Ende der neoliberalen Epoche und die Rückkehr zu einer Art organisiertem Kapitalismus, die wir erleben, höchstens kurzfristig eine Befriedigung für die LINKE sein. Eigentlich gerät sie unter unvorhergesehenen enormen Druck, wie die Bundestagsdebatten der letzten Tage schon gezeigt haben. Und die Hoffnungen, die Hilferding in der Weimarer Zeit an jene Form des Kapitalismus knüpfte, sind bekanntlich bitter enttäuscht worden.

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