Ein Geruch von Zelluloid

Dem ältesten Berliner Lichtspielhaus droht das Aus wegen einer Mieterhöhung

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 4 Min.
Ort mit langer Filmtradition – die Tilsiter Lichtspiele
Ort mit langer Filmtradition – die Tilsiter Lichtspiele

Auf dem schweren Metallteller läuft ein 35 Millimeter breiter Streifen ab, legt über kleine Rollen einen verwinkelten Weg von fast zwei Metern durch den halben Raum zurück und verschwindet in einer 1,80 Meter hohen Maschine, die so aussieht als könnte man sie zu sechst kaum heben. Der Streifen läuft vor einer Lampe vorbei, wieder aus der Maschine heraus und verwinkelte zwei Meter zurück auf einen weiteren Teller, der sich knapp unter dem ersten dreht. Wir befinden uns im Vorführraum der Tilsiter Lichtspiele in Friedrichshain. Zu seinem 100. Geburtstag droht dem ältesten noch betriebenen Berliner Kino das Aus – wie so oft geht es um die Miete.

Der Raum ist eng, man muss den Bauch einziehen, um sich an der Wand an dem 40 Jahre alten Filmprojektor vorbeizudrücken. Es riecht nach warmem Zelluloid. Ein weiterer Projektor gleicher Bauart steht daneben. Der ist aber nicht in Betrieb. »Früher hatten wir die beiden Maschinen parallel laufen«, erklärt der Kino-Mitarbeiter Clemens Tagelehn, »da mussten wir während der Vorführung noch mehrfach die Filmrollen wechseln«. Seit sie die Teller aufgebaut haben, entfällt der Wechsel.

»Das Mietverhältnis läuft aus. Bis Februar sind wir noch hier, dann ist unsicher, wie es weitergeht«, sagt Eckard Stüwe, einer von drei Gesellschaftern des Kino- und Kneipenbetriebes. Die bisherigen »Angebote« vom Vermieter seien so hoch gewesen, dass das Geld nicht aufzubringen sei. Das Gespräch wird kurz unterbrochen, weil er hinter den Tresen muss, um ein Bier zu zapfen. »Wir sind hier alle Filmvorführer, Wirte, Kassierer und Kartenabreißer in einer Person«, sagt der gelernte Stuckateur als er wieder zurück ist.

Einen »Filmberuf« hat keiner der drei gelernt, die 1993 das Kino wieder eröffnet haben. Die Tilsiter Lichtspiele gibt es seit 1908 – ein klassisches Puschenkino, wie es vor dem Fernsehen an fast jeder Ecke eines gab. Im Jahr 1961 musste das damals in Familienbesitz befindliche Kino mit seinen 66 Plätzen schließen. Gegen das neu eröffnete Kosmos an der Karl-Marx-Allee hatte man keine Chance. Nach 30 Jahren entdeckten die drei kinobegeisterten Freunde die verstaubten Räume im Erdgeschoss eines Wohnhauses und öffneten das Kino neu. Die Vertiefungen des alten Schildes waren noch an der Fassade zu finden, die neuen Betreiber mussten nur ein neues anfertigen und einpassen.

Sieben Stuhlreihen mit fünf und sechs Plätzen, ganz hinten stehen vier schwere Sofas und ein Couchtisch – ein gemütlicher Kinosaal. Alles ist selbst gebaut. Die hohen, schmalen 50er-Jahre-Lampen an den Wänden stammen aus dem Münchner Schauspielhaus. »Die Bestuhlung haben wir selber im Kosmos-Kino nach dessen Schließung abgeschraubt«, erzählt Stüwe. Ziel sei es gewesen, mit altem Mobiliar die »alte« Stimmung herzustellen. Das ist gelungen.

Auf dem Kneipentresen liegen Unterschriftenlisten für den Erhalt des Kinos. Gut 700 Leute haben schon unterschrieben. »Die Leute aus der Straße kommen zu uns und fragen, ob sie helfen können«, erzählt der 41-Jährige. Das Kino mit der Kneipe sei das Einzige, was in der Straße »lebt«, sagen die Leute.

»Für Menschen wie mich würde ein großes Loch entstehen«, meint der Regisseur Ernst Spiessberger, den wir am Tresen treffen. Sein Werk »Brachland« läuft hier am 25. Oktober. Kleinere Kinos seien für freie Filmschaffende eine nicht zu ersetzende Plattform, um ihre Filme auf die Leinwand zu bringen. In der Tat sind 50 Prozent des Tilsiter-Programms von Filmemachern, die auf das Kino zugehen. »Leute, die mit Mühe und Not jenseits der Förderstrukturen etwas auf die Beine stellen, haben auf jeden Fall einen Fuß in der Tür bei uns«, sagt Stüwe.

Die Politik hat inzwischen weitere Unterstützung angekündigt. Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Grüne) habe bereits vor zwei Monaten mit der Eigentümerin gesprochen und erreicht, dass sie überhaupt den Mietvertrag verlängert, erzählt er. »Bei der Miethöhe blieb sie aber hart«, so Schulz. Er werde jetzt noch mal das Gespräch mit ihr suchen.

Unterdessen rattert der alte Projektor weiter jeden Abend ab 18 und 20 Uhr los und wirft seine Bilder. Er weiß nichts von Vermietern und Verträgen. Für ihn kann der Betrieb noch weitere 100 Jahre laufen. Würde doch manch Eigentümer ähnlich beständig sein.

www.tilsiter-lichtspiele.de

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