nd-aktuell.de / 23.10.2008 / Kultur / Seite 12

Bloomsday eines Moskauers

Jewgenij Grischkowez wollte mit »Das Hemd« etwas »Leichtes« schaffen

Karlheinz Kasper

In Dublin erinnert der »Bloomsday«, der jährlich am 16. Juni begangen wird, an Leopold Bloom aus dem »Ulysses« von James Joyce. Wie sein Freund Stephen Dedalus ist Bloom einen ganzen Tag lang in der Stadt unterwegs, um spät in der Nacht alkoholschwer im Bett seiner Frau Marion zu landen. Offensichtlich kennt Grischkowez seinen Joyce. Im Roman »Das Hemd« lässt er den Architekten Alexander einen Wintertag lang mit seinem Freund Max durch Moskau streifen. Am Morgen zieht er sein weißes Lieblingshemd an, in der Hoffnung, SIE zu treffen. Nach Mitternacht, als das gute Stück bekleckert und mindestens zehnmal durchgeschwitzt ist, ruft SIE ihn an. Er betrachtet sein schmutziges Hemd und lehnt, mit einer banalen Ausrede, ihre Einladung ab, um nach Hause zu fahren, sich auszuweinen und endgültig zu betrinken. Grischkowez sieht sich als »neuer Sentimentalist«. 1967 im westsibirischen Kemerowo geboren, gründete er dort 1990 ein extravagantes Theaterensemble, mit dem er über zwanzig eigene Stücke erarbeitete. Zwischen 1998 und 2002 sprengte der junge Wilde aus der Provinz mit den Moskauer Inszenierungen des Einpersonenstücks »Wie ich einen Hund gegessen habe« und der Monologdramen »Gleichzeitig« und »Dreadnoughts« alle in Russland üblichen Theaterkonzeptionen. In Wien, Paris, Brüssel, Zürich, München und Berlin hatten seine Stücke Erfolg. Inzwischen als Dramatiker, Regisseur, Theater- und Filmschauspieler, Performer, Musikproduzent und Sänger in ganz Russland populär, lebt Grischkowez seit einigen Jahren in Kaliningrad, um die Moskauer aus der Distanz aufs Korn nehmen zu können.

Prosa schreibt Grischkowez erst seit 2004, wobei er sichtlich experimentiert und sich langsam an die Romanform herantastet. »Das Hemd«, 2004 in Moskau mit 100 000 verkauften Exemplaren ein Bestseller, wurde von den meisten als autobiografische Beichte gelesen, obwohl der Text weitgehend fiktiv ist. Alexander ist nach einer gescheiterten Ehe aus der Provinz in die Metropole gekommen. Hier baut der Architekt kleine Privathäuser und Läden. Am bewussten Tag besucht er eine Baustelle und ermahnt die Arbeiter, weniger zu trinken. Freund Max reist aus der Heimatstadt an, um in Moskau seinen Kummer zu vergessen. Er kommt ungelegen, weil Alexander ständig an SIE denken muss und mit ihr telefoniert, um ihr endlich zu sagen, dass er SIE liebe. Da SIE nicht erreichbar ist, denkt er sich Fluchtorte aus – eine Wüste, eine Polarstation, ein Gefängnis, ein Kloster, den Kosmos. Er hat Tagträume, erinnert sich an den Militärdienst, wähnt sich in einem Schützengraben oder auf der Brücke eines Kriegsschiffes. Mit Taxifahrern und Barmännern pflegt er philosophischen Small Talk. Mit Max führt er seitenlange Dialoge über Liebe und Sex, Geld und Zigarren. Sie ziehen durch Kneipen, trinken Kognak, Tequila, Whiskey und den Mojito, der Hemingways Lieblingscocktail gewesen sei soll. Irgendwann sind sie betrunken und pinkeln vorm Kreml – »ohne Pathos oder Protest« – in den Schnee.

Alexander hört die Geräusche der Großstadt, passiert den Gartenring, den Oktoberplatz, die Petrowka, bekannte Straßen und Prospekte. Das heutige Moskau wird detailliert, aber ohne den landesüblichen Glorienschein beschrieben, wirkt universell, ist einfach Weltstadt und bietet Raum für die Entfaltung eines überall denkbaren psychologischen Konfliktes. Er wird durch das »Hemingway-Spiel« ausgelöst, das Alexander und Max erfunden haben. Um es zu spielen, muss die Kleidung lässig wirken und trotzdem Klasse haben. Das Hemd ist obligatorisches Element des Spiels. Es soll die Generationszugehörigkeit verwischen, Außenstehende über Aus- bildung, Beschäftigung, Einkommen und sozialen Status des Spielers im unklaren lassen. Ein Spiel, das erkennen lässt, wie weit die Globalisierung in den Alltag eingezogen ist. Für den empfindsamen Alexander ist Moskau eine schreckliche Stadt voller Einsamkeit, in der die Wahrscheinlichkeit einer Begegnung gegen null tendiert.

Grischkowez gehört zu der neuen Generation der Dreißig- bis Vierzigjährigen, die gegenwärtig dabei sind, die russische Literatur zu »privatisieren«, ihr sozialkritisches Engagement herunterzufahren. Mit dem »Hemd« wollte er »etwas Leichtes« schaffen, »mit viel Luft dazwischen«. Das ist ihm hervorragend gelungen. Im April dieses Jahres kam in Moskau mit »Asphalt«, 576 Seiten, sein erster wirklicher Roman heraus – die Geschichte des »Businessman« Mischa, den nach dem Selbstmord Juljas, bei der er sein Gewissen zu erleichtern pflegte, seine Lebenslüge in die Katastrophe führt.

Jewgenij Grischkowez: Das Hemd. Roman. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Ammann Verlag. 267 S., geb., 19,90 EUR.