Provokation mit Vätern

Heiner Müller beim »Festival der vier Kulturen« in Lodz

  • Thomas Irmer
  • Lesedauer: 4 Min.

Dimiter Gotscheffs »Hamletmaschine« vom Deutschen Theater Berlin ist ein Theaterjuwel, das bislang im Ausland keinen Ort fand. Nun gab es kürzlich in Lodz, wo Heiner Müller nicht gerade bekannt ist, das erste Gastspiel. Mit ehrfürchtigem Erfolg, wenn man das so sagen kann. Als gelungenes Experiment, das steht fest, auf einem Festival, das wie die Stadt sich in rasantem Umbau befindet.

Durch das industrielle Lodz hat die Transformation, so der offizielle Begriff für den Umbau der Gesellschaft nach 1990, wie ein Sturm gefegt. Die lange Zeit zweitgrößte Stadt Polens hat diesen Rang an Krakow abgegeben. Zur Abwanderung durch Deindustrialisierung kam in den letzten zehn Jahren noch die typisch polnische Arbeitsmigration nach England und Irland, vor allem junge Leute gingen. Von fast einer Million Einwohnern sind heute noch gut die Hälfte da, und die einst riesigen Textilfabriken sind zum Teil schon in eine postindustrielle Nutzung überführt. Die »Manufaktura«, das Vorzeigeobjekt der Stadt, hat die Ausmaße eines kleinen Stadtviertels und beherbergt in ihren zahlreichen Ziegelbauten Shopping Malls, Restaurants und Kultureinrichtungen. Diese Dimension übersteigt ihre Vorbilder im Ruhrgebiet und Mittelengland, und der Tempo des Umbaus lässt sich wahrscheinlich mit nichts vergleichen.

Im Jahre 2002 hatte Lodz den härtesten Teil des Umbruchs schon hinter sich, und die Frage stand im Raum, was die Stadt nun außer ihrer Geschichte zu bieten habe. Genau die sollte das Thema sein, fand Witold Knychalski – und gründete das Festival der vier Kulturen. Die polnische Stadt sollte daran erinnern, dass sie auch eine deutsche, jüdische und russische Vergangenheit hat. Die ersten Ausgaben des Festivals brachten mit populärer Musik und Tanz vieles, was sich dem Thema irgendwie zuordnen ließ.

Jetzt hat Katarzyna Knychalska, die Tochter des Gründers, das Festival etwas schärfer fokussiert und insbesondere den Theaterteil stark aufgewertet.

Für das komplizierte Verhältnis zur eigenen Vergangenheit haben die Programmkuratoren diesmal das Thema »Väter« gewählt. Die »Hamletmaschine« als mehrfaches Vater-Drama: Gotscheff, der aus technischen Gründen auf der Bühne des Teatr Nowy nicht über die von Mark Lammert ersonnenen Grablöcher stieg, sondern über flache weiße Sarkophage, zum Vater Heiner Müller und zu jenem Sohn der Jetztzeit, den Alexander Khuon mit einer Passage aus Müllers spätem Gedicht »Mommsens Block« zeigt. Dem Publikum standen Augen und Ohren offen, Müllers harte Sprache, ihre Vielbezüglichkeit, ist im polnischen Theater nahezu unbekannt. Die expressive Sprech-Darstellung der Ophelia durch Valerie Tscheplanowa beschleunigte noch die Spannung in Müllers Text für die Zuschauer.

Dagegen gab Alvis Hermanis mit seinem Stück »Väter«, in dem drei Schauspieler über ihre tatsächlichen Väter erzählen, weit weniger Rätsel auf, konnte aber trotzdem durch diese auch in Deutschland mehrfach gezeigte Form des biografischen Theaters überraschen. Hermanis ist der einzige Theaterkünstler aus dem alten Osteuropa, der heute überall zu Hause ist, ohne an Theaterväter anknüpfen zu müssen.

Viel riskanter war da die polnische Auftragsproduktion für »Der Waisenabend« von Michal Borczuch, der sich unter dem Thema der verlorenen Väter Janusz Korczaks bekannteste literarische Erzählung vom »König Matteus« vornahm. Ein Vorbild dafür war gewiss Christoph Marthalers beklemmendes Stück über Euthanasie-Kinder, »Schutz vor der Zukunft«, aber die in einem eindrucksvollen Bankgebäude aus der Zeit des gelobten Lands aufgeführte Paraphrase Borczuchs verlor sich in ihrer eigenen Spielverliebtheit und letztlich auch Unverbindlichkeit.

Überraschend dann am Rande des früheren Getthos von Litzmannstadt, wie Lodz in seiner schlimmsten Zeit hieß, die Performance der Public Movement Gruppe aus Acco in Israel. Was zunächst unter freiem Himmel auf dem Alten Markt wie Drill in der Armee aussieht, wie bei Schleef marschieren und exerzieren – allerdings in weißer, nichtmilitärischer Kleidung, wendet sich plötzlich zu beklemmenden Szenen von einem Autounfall, wird zur Choreografie von brüchigem Zusammenhalt und drohendem Terror. Public Movement ist eine erstaunliche Mischung aus Intervention im öffentlichen Raum und durchchoreografiertem Erzähltanz mit politischem Einsatz. Demnächst auch in Berlin.

In Lodz, am östlichen Rand unserer Zeitzone, fällt das Sonnenlicht in den Übergangsjahreszeiten abends hart ein und wirft scharfe Schatten an den vielfach stuckverzierten Häusern. Das hebt das alte Äußere der Stadt magisch hervor. Nächstes Jahr soll STADT das Thema sein ...

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