Banker beim Betteln

Im US-Wahlkampf bleiben die Folgen der Finanzkrise unterbelichtet

  • Max Böhnel, New York
  • Lesedauer: 6 Min.

Wall Street am vergangenen Mittwoch. Da Autos und Lastkraftwagen seit »9/11« wegen befürchteter Anschläge hier keinen Zugang mehr haben, gehört die Straße denjenigen, die zu Fuß unterwegs sind. Es sind Banker und Wall-Street-Händler in feinem Zwirn, die zur Mittagspause in ein Restaurant gehen, aber auch neugierige Touristengruppen und Bauarbeiter, die sich am Straßenrand an der gegenüberliegenden Seite des Börsengebäudes, dem »Stock Exchange«, niedergelassen haben. Sie beobachten eine eigenartige Szenerie.

Mit dem Rücken zum »Stock Exchange« stehen drei identisch aussehende Frauen mittleren Alters: roter Lippenstift, streng gebundene Haare, dunkle Geschäftskleidung, Jackett und konservativer Rock, graue Strümpfe, gleicher Gesichtsausdruck. Sie starren regungslos nach vorne. Die einzige Bewegung, die jede der drei vollzieht, ist das langsame, parallel verlaufende Schütteln einer Spendendose in der jeweils rechten Hand – während sie in der Linken je eine dunkle Geschäftstasche halten, aus der die Hundert-DollarScheine hervorquellen. Banker beim Betteln: Straßentheater.

Straßentheater in der Wall Street

Keine Frage, es geht um das sogenannte »Bail-out«, die 700 Milliarden Dollar Steuergelder, die Regierung und Kongress in Washington der Finanzindustrie zugesagt haben, angeblich, um die »verstopften Finanzmärkte« wieder in Bewegung zu bringen. Die drei Frauen sind Drillinge, Künstlerinnen aus Boston; Alicia, Kelly und Sarah Castillo. Sie nennen sich »Triiibe«. Die Millionen und Milliarden seien nicht genug, sagt Alicia Castillo ironisch und fügt hinzu, die Reaktionen der Passanten auf die Street performance seien »gemischt«. Denn Banker schütteln den Kopf und beschleunigen verschämt bis verärgert den Schritt, während das normale Volk – Hotdog-Verkäufer, Bauarbeiter, Lieferanten und Touristen – zuerst ungläubig stehen bleibt und dann, wenn es sich der Handlung bewusst wird, nickt oder lächelt. Wer wo an der Klassenfront steht, ist in diesen Tagen an der Kleidung und am Gesichtsausdruck zu erkennen.

Ein paar Schritte weiter spricht der Straßenkünstler Jim Costancio die Anzugträger direkt an. »Helfen Sie mir doch, einen Politiker zu kaufen, ich brauche 100 000 Dollar, 100 Dollar Minimum.« Die US- und die Weltwirtschaft seien »von einem Haufen Banker und von ihren Helfershelfern, den Politikern, ausgeraubt worden, mithilfe der Deregulierung«, sagt der 48-jährige New Yorker. Dies sei einerseits »nichts Neues, andererseits habe es ein größeres Ausmaß als früher«. Die Reaktionen auf seine »direkte Aktion« beschreibt Constancio als »Peinlichkeit, Humor, etwas Feindseligkeit«. Frustrierend sei, dass niemand wisse, was gegen das »Bail-out« unternommen werden könne.

Aber weder die ausländischen New-York-Besucherinnen und -besucher noch das »andere Amerika« wissen neben der Aufführung von Straßentheater und der Abfassung von Petitionen, was in so einer Situation noch zu tun wäre. Ein Großteil der Linken, der Friedens- und Frauenbewegung sowie der Gewerkschaften ist mit dem Wahlkampf für Barack Obama beschäftigt – der dem »bail-out« zugestimmt hat und jetzt nur Nachbesserungen fordert. Dabei wird den Politikern von der Bevölkerung immer weniger zugetraut, die Krise – die ja mehr ist als eine Hypotheken- und Finanzkrise – lösen zu können. Zwei Drittel halten den Republikanerkandidaten John McCain in Sachen Wirtschaft für unfähig, fast die Hälfte traut dem Demokraten Barack Obama nicht.

Aber solche Umfragen spielen zweieinhalb Wochen vor den Präsidentschaftswahlen eine untergeordnete Rolle. Der mediale Stimmungszirkus konzentriert sich auf das »Duell«. Obama führt laut »Wall Street Journal« inzwischen mit 52 zu 42 Prozent, laut dem Meinungsforschungsinstitut »Pew« mit 53 zu 39 Prozent vor McCain. Gewinnt Obama, dann steht ihm die kaum lösbare Aufgabe bevor, der Rezession Herr zu werden. Die Nachrichten von der Wall Street und vom Wahlkampf dominieren, während »Main Street« (Hauptstraße), die wirtschaftliche Situation im normalen Amerika, unterbelichtet wird.

Rentner tauschen Haus gegen Wohnwagen

Die an der Börse gehandelten Pensionsfonds haben den Angaben der Haushaltsstatistiker aus dem Washingtoner Kongress zufolge in den vergangenen fünfzehn Monaten eine Kernschmelze von zwei Billionen Dollar hinter sich gebracht – weshalb sich Zehntausende von Rentnern, die sich aufs Altenteil setzen wollten, im letzten Lebensabschnitt noch einmal auf die Suche nach einem Job begeben müssen.

Oder aber sie backen extrem kleine Brötchen. Nach einer Industriestatistik der Wohnwagenhersteller haben sich die Bestellungen für bescheidene fahrbare Untersätze im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. In den kommenden Jahren werden die Campingplätze in den warmen US-Südstaaten deshalb vermutlich massenhaften Zulauf bekommen, wenn Rentner ihre im Wert gesunkenen Häuser verkauft und vom Erlös Wohnwagen erstanden haben. Ob die restlichen 100 000 Dollar dann ausreichen, um die letzten zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre würdevoll zu bestreiten, steht in den Sternen.

Die Mehrzahl der US-Ökonomen geht vom Anfang einer »lang anhaltenden Rezession« aus und mahnt bei Kleininvestoren, das heißt auch bei Fondssparern für die Rente, Geduld an. Die Wirtschaftsprofessorin Dr. Kathleen Connell von der University of California in Berkeley sprach in einem Artikel der Zeitung »Christian Scinence Monitor« von einem »wirtschaftlichen globalen Tsunami, der niemanden verschont«. Wer heute 50 Jahre und darüber ist, werde die Verluste nicht mehr wettmachen, aber die 40-Jährigen und jene unter 40 hätten die Gelegenheit für einen Neuanfang. Dazu sei aber die Schuldenmentalität zugunsten einer konservativeren Sparermentalität aufzugeben.

Das dürfte eine schwierige Umstellung für die Amerikaner sein, die es seit zwei Generationen gewöhnt sind, mit Kreditkarten zu konsumieren. Seit einigen Wochen schlägt aber die Realität zu: Wer bei einer Bank Schulden aufnehmen will, muss zum ersten Mal seit Jahrzehnten mit westeuropäischen Standards rechnen. Hypothekenfinanzierer kürzen bestehenden Schuldnern sogar die Kredite. Wer fix genug war, machte die zweite Hypothek aufs Haus bis vor Kurzem zu Bargeld. Wer wartete, dem wurde oft per Brief von der Bank mitgeteilt, dass diese hypothekenbesicherte Kreditlinie nun nicht mehr 100 000 Dollar, sondern nur noch die Hälfte davon ausmache.

Den Gürtel viel enger schnallen müssen auf einmal nicht nur Rentner und Hausbesitzer, sondern auch Studierende. Denn der Börsencrash stoppte auf einmal »Studiencash«. Zehntausende von Studienanfängern stehen mit leeren Händen da, weil die Verleiher von Privatkrediten pleite gingen. Ein Beispiel: Als Lehman Brothers, die viertgrößte Investmentbank der USA, Konkurs anmeldete, war es auch um CampusDoor, eine Tochtergesellschaft, geschehen. Damit war die Zahl der kollabierten Finanzierer von Studienkrediten allein in diesem Jahr auf 70 gestiegen. Eine, die nicht mehr wusste, wie sie ihr Studium finanzieren sollte, war die 17-jährige Marlo Johnson aus Pennsylvania. Die dortige Susquehanna University hatte ihr für das erste Studienjahr einen Kredit von 15 000 Dollar gewährt – die Gebühren betragen pro Jahr 38 000 Dollar. Aber Kreditgeber für den »Rest« fanden sich nicht, da sie schärfere Rückzahlungskonditionen stellten.

Die Johnsons haben keine Krankenversicherung, die Krankenhausaufenthalte des Vaters hatten alle Ersparnisse aufgefressen. Mangelnde Sicherheiten machten Marlo Johnsons Medizinstudium zu einem hohen Risiko. Die Banken haben den Studienkreditmarkt abgegrast. Profitabel sind für sie nur noch die Geschäfte mit Studenten teurer Universitäten für Familien mit großen Geldbeuteln.

Traum von der Ärztin ausgeträumt

Immerhin fand Marlo Johnson in Pennsylvania dann aber doch noch eine weniger teure Fachhochschule. Den Traum, eines Tages Ärztin zu sein, musste sie aufgeben. Jetzt studiert die junge Frau Mathematik. Für die Studiengebühren von 1750 Dollar für jedes Semester kommt zur Hälfte ihre Mutter auf. Die andere Hälfte verdient sich Marlo Johnson als Serviererin in einem Café – kein leichter Job, sagt sie, denn die Kundschaft und das Trinkgeld bleiben seit drei Wochen aus.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal