Karl Marx und die Ameisen

  • Reinhard Renneberg, Hongkong
  • Lesedauer: 3 Min.

Auch das noch! Nach der ausgestandenen Termiteninvasion zieht sich nun eine mehrspurige Ameisenstraße direkt in meinen Laptop hinein. Was mich gleich auch an die in Europa zu Zeiten der chinesischen Kulturrevolution verbreiteten Vergleiche »meiner Chinesen« in ihrer Mao-Kluft mit einer Schar blauer Ameisen erinnert. Das Bild ist jedoch längst passé, wie man heute schnell erkennt, wenn man abends durch die Straßen Schanghais flaniert und dabei die modischen Chinesinnen bestaunt.

Also: Ich hatte am Vortag beim E-Mailen Kaffee getrunken und dabei wohl Kristallzucker verschüttet! Offenbar besteht nun eine Riechspur vom Garten bis zum Computer, denn auch die von mir aus Neugier neu hinzugesetzten Ameisen laufen sofort zielsicher drauflos, hin zum »süßen« Computer!

Das für uns Menschen wichtige Sehvermögen spielt bei den meisten Ameisen kaum eine Rolle. Da viele von ihnen sogar ausschließlich unterirdisch leben, ist es bei der überwiegenden Mehrzahl der Arten nur äußerst schwach entwickelt. Zur Verständigung im Dunkel eines Erdnestes eignen sich daher chemische Lockstoffe am besten. Aber auch außerhalb des Nestes funktioniert diese Variante der Kommunikation ausgezeichnet, wie ich am zügigen und gut koordinierten Abtransport der Zuckerkristalle feststellen darf.

Im Hinterleib der Ameisen werden etwa zehn bis zwanzig Pheromone, also Düfte, erzeugt, die der Kommunikation dienen. Die sogenannten Spurpheromone werden von den Dufour’schen Drüsen am Hinterleib geliefert. Von vielen Pheromonen kennt man mittlerweile die chemischen Strukturen. Dabei handelt es sich meistens, wie bei der Ameisensäure, um recht einfache Verbindungen (z. B. Alkohole, Aldehyde, Fettsäuren oder Ester). Es gibt jedoch auch komplexere Moleküle, wie diverse Terpenoide und Alkaloide.

Ameisen sind sozusagen wandelnde Drüsenpakete. Das Anlocken, die Rekrutierung und Alarmierung von NestgenossInnen, das Erkennen anderer Kasten, die Unterscheidung zwischen Verwandten und Fremden, ja auch das Signalisieren der Lebenszyklusstadien wie z. B. dem der Larve – all dies läuft über den Geruch und spezielle biologische Erkennungsmoleküle mit Proteinnatur (sogenannte Rezeptoren). Die Ameisen haben bekanntlich einen total anderen evolutionären Weg eingeschlagen als wir. Unsere menschliche Kommunikation erfolgt hauptsächlich akustisch und visuell.

Eine Ameisen-Arbeiterin besitzt normalerweise ein Millionstel oder gar nur ein Milliardstel Gramm von jedem ihrer Pheromone – in den meisten Fällen viel zu wenig, um von uns überhaupt wahrgenommen zu werden. In Hinsicht auf die Duftkommunikation sind die Ameisen in der Tierwelt aber keineswegs etwas Besonderes: die überwiegende Mehrheit aller Lebensformen – und wenn man die Mikroorganismen mit berücksichtigt, sind das über 99 Prozent –, verständigt sich vorwiegend oder sogar ausschließlich über Moleküle.

Woher ich das alles weiß? Nun, ich verschlinge gerade mit Begeisterung das Buch »Ameisen. Die Entdeckung einer faszinierenden Welt« von dem Deutschen Bert Hölldobler und dem Amerikaner Edward O. Wilson.

Als ND-Leser und gelernter Marxist erfahre ich dort mit Schmunzeln: »Nach unserer Ansicht ist es die hochentwickelte, aufopferungsbereite, soziale Lebensweise, die den Ameisen den Konkurrenzvorteil erbracht hat, der zu ihrem Aufstieg zu einer weltweit dominierenden Gruppe geführt hat. Es scheint, dass Sozialismus unter ganz bestimmten Umständen doch funktioniert. Karl Marx hatte es nur mit der falschen Art zu tun.«

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