Budapester flohen am Nationalfeiertag

Ungarn beging den Jahrestag des Aufstands von 1956 auf seine ganz eigene Art

  • Gábor Kerényi, Budapest
  • Lesedauer: 3 Min.
Zwei Tage vor dem mitterweile von vielen Ungarn gefürchteten Nationalfeiertag am 23. Oktober wurde das Ergebnis der Umfrage eines Forschungs- und Beratungsinstituts publik. Gefragt war die Meinung der Bevölkerung über die Nationalfeiertage. Das überraschende Ergebnis: Das politisch seit Jahren tief gespaltene Land denkt in dieser Frage weitgehend einheitlich.

Praktisch ohne Rücksicht auf Parteipräferenzen sind vier Fünftel der Ungarn der Meinung, dass die Parteien und ihre Führer gemeinsam feiern sollten. Und, auch wenn dies außerhalb Ungarns lustig klingen mag, immerhin die Hälfte meint, dass beide politische Lager ein Recht zum Feiern haben.

Doch die ungarischen Politiker konnten auch dieses Mal nicht für einen Minute aus ihrer Haut. Natürlich traten sie nicht zusammen auf. Die Ehrenmäler der Märtyrer von 1956 wurden von den verschiedenen politischen Funktionären an diesem Tag in einer lächerlichen Tanzordnung ungezählte Male bekränzt. Und die Reden, jedenfalls die der Rechten, wimmelten von tagespolitisch motivierten Beschimpfungen und Rücktrittsforderungen.

Es gibt wohl kein zweites Land im heutigen Europa, das in einer Situation am Rande des wirtschaftlichen Abgrunds keine innenpolitischen Kommunikationskanäle findet. Und wenn schon von Europa die Rede ist: Die Ungarn gehen auch im Europäischen Parlament mit bestem Beispiel voran. Alle ungarischstämmigen Abgeordneten, auch die aus Rumänien, feierten am Donnerstag in Brüssel gemeinsam – nur die große rechte Oppositionspartei Fidesz glänzte durch Abwesenheit. Sie wird am 4. November, dem Tag des sowjetischen Einmarsches von 1956, ein Extrafest in Straßburg veranstalten.

In Budapest begann der erhabene Festtag in schöner Langeweile. Am Vormittag fand die obligatorische Flaggenparade mit dem obligatorischen Pfeifkonzert von ein paar Dutzend Gegendemonstranten statt. Am Nachmittag begannen die Schimpf- und Drohreden der mehr oder weniger extremen Rechtspolitiker, ihre Zuschauer schwangen hie ein gezücktes blutiges Schwert oder waren da mit Gaswaffen und -masken und sonstigen Hilfsmitteln ausgerüstet. Von den Feierlichkeiten zeichnete sich die der Mentorenpartei der Ungarischen Garde (Jobbik) als erfrischender Farbfleck aus. Deren Vorsitzender kündigte an, anlässlich der nächsten Parlamentswahlen 2010 die Revolutionsgarde des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad ins Land holen zu wollen, um Betrügereien der »Kommunisten« vorzubeugen. Spätestens von diesem Moment an war die Tragikomik der ungarischen Realität im Jahr 2008 offenkundig.

Bei den Abendfeierlichkeiten in der von der Polizei zur Festung verwandelten Budapester Staats-oper, wo der sozialistische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány seine traditionelle Rede hielt, ließ sich der langsam ins Extreme abrutschende Staatspräsident László Sólyom überhaupt nicht blicken, er war am Nachmittag zu einem viertägigen Privatbesuch nach Siebenbürgen gereist. Währendessen wollten draußen um die tausend Rechtsradikale die Straßen wieder einmal in ein Schlachtfeld verwandeln, in ihrer Ausdrucksweise: eine »neue Revolution« anzetteln. Doch das gelang ihnen diesmal nicht, weil die Polizei, die aus dem Fiasko vergangener Jahre gelernt hat, schon seit den Morgenstunden Waffen tragende Personen verhaftet hatte und am Abend die tonangebenden Figuren aus der Menge herausholte. Im Kofferraum eines unter einer Überführung geparkten Autos wurden drei Brandbomben entdeckt. Zur Mitternacht war alles wieder ruhig.

Von all diesen Ereignisse bekamen viele Budapester ohnedies nicht viel mit. Schon am Vortag hatte ein Massenexodus aus der Hauptstadt begonnen – nach dem Motto: Rette sich wer kann! Budapest, wo 80 Demonstrationen angekündigt worden waren, wirkte am Festtag, wie schon im vorigen Jahr, wie ausgestorben. Die Leute eilten nicht nur zu ihren friedlichen Wochenendhäusern, trotz Finanzkrise waren auch in Wien viele ungarische Einkaufsflüchtlinge zu sehen.

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