Der Balkan ist überall

Dimiter Gotscheff inszeniert »Das Pulverfass« am Haus der Berliner Festspiele

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

W enn wir eins aus dem Untergang der Titanic lernen können, dann dies: Musik ist wichtig. Solange wir Musik hören, glauben wir, dass die Dinge ihren normalen Verlauf nehmen. Tun sie ja auch – siehe oben.

Dimiter Gotscheff agiert schon eine Weile als Dirigent der Bordkapelle des kraftvoll seinem Untergang zustrebenden Luxusliners. Welche Musik hier gespielt wird, kann jeder hören oder überhören – wie er denn will. Gotscheff: ein trauriger Clown, auf einer jener Straßen entlangschlendernd, die – so Georg Trakl – alle in grüner Verwesung münden.

Grüne Äpfel rollen denn hier auch zwei Stunden lang immer wieder die Bühnenschränge hinab. Man hört sie eher, als man sie sieht, kleine grüne Hoffnungsbälle, die wie Lawinen vorbeischießen und in einen Graben stürzen, der die Bühne vom Zuschauerraum trennt – der das schräge hölzerne Quadrat dort vorn zum Floß auf offener See macht. Im Laufe des Abends füllt sich der Graben grün – der giftige Schaum schimmert bis in den Rang des Festspielhauses hinauf. Und doch, das faulige Wasser trennt uns vom Geschehen.

Was passiert, liegt immer jenseits des Wassers, über das niemand gehen will, weil es angeblich ein Meer ist. Aber es ist nur – siehe oben.

Gotscheff setzt mit »Das Pulverfass« von Dejan Dukovski seine Hamburger Lesart von »Leonce und Lena« und des »Ubukönig« nach Alfred Jarry an der Volksbühne frappierend konsequent fort. Absurde Totentänze. Leere Macht-Gesten. Letzte komische Zuckungen des Abendlandes. Nietzsche hatte einst gefragt, wer die »Barbaren des 20. Jahrhunderts« seien – und dabei wohl den Sozialismus gemeint. Eine Analogie zum Urchristentum, das die hohl gewordene griechisch-römische Hochkultur implodieren ließ. Der Barbar als das geschichtlich radikal Neue. Nietzsche selbst hatte sich als Zuendebringer des christlich-humanistischen Abendlandes verstanden, seinen Ruf »Ich bin Dynamit« vernahm auch Alfred Jarry in Paris, aber er fand das Pathos des Rufs höchst komisch. Dennoch ist sein »Ubukönig« ein tiefschwarzes Dokument verwilderter Machtpolitik, das bis heute – zumal in Gotscheffs Regie – zu erschrecken vermag.

Die Zeiten sind irre geworden – und leider haben immer die falschen Leute den Finger am Abzug. Samuel Finzi und Wolfram Koch als Vater Ubu und Mutter Ubu vergisst man nicht in ihren ebenso virtuosen wie vergeblichen Versuchen der Machtabsicherung. Und nun begegnen wir diesen beiden Schauspielern, die zu den prägenden deutschen Bühnendarstellern dieser Zeit geworden sind, auf dem Balkan wieder. Ex-Jugoslawien-Bewohner, kriegsversehrt, in Post-Bürgerkriegszeiten aus Langeweile den Krieg fortsetzend – untereinander, gegeneinander. Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Und der Balkan ist überall da, wo die Zukunft ein leeres Versprechen bleibt.

»Der Balkan ist ein Pulverfass«, dieser Satz, auf der Bühne wie eine Phrase ausgespuckt, ist bereits historisch geworden, ein Zitat, das zur Phrase wurde, weil die Wirklichkeit dazu längst zerpulverte.

Gotscheff choreografiert zur Musik von Sandy Lopicic (à la Goran Bregovic) die Melancholie des Zerfalls. Eine Rhapsodie in Schmutz und Ekel. Man pisst, mordet und fickt – besorgt irgendwie Geld, damit dies Rad der Entseelung sich weiter dreht, es rollen die grünen Äpfel unbeachtet vorbei ins Wasser dort vorn an der Rampe. Der Unrat wächst.

Gotscheff beschränkt sich längst darauf, kunstvoll seinen Ekel zu zelebrieren. Es bekommt etwas von einer Ästhetik des Schreckens, wie er hier namenlose Paare und Passanten durch den Müll eines abgelebten Konsumzeitalters treibt. Er türmt sich überall und besonders hier an den Rändern, aber die Ränder wandern der Mitte entgegen. Ein europäischer, ein transatlantischer Todes-Reigen – und ein bitterer Exkurs über das Böse in der Moderne.

Margit Bendokats Erscheinen erinnert daran, dass dies eine Co-Produktion des Deutschen Theaters (wegen Asbest-Sanierung momentan obdachlos) und der Spielzeit Europa ist. Sie geht, eine stumme Alte, Sinnbild dessen, was man einmal war, vorn ins Wasser, in dem all die grünen Äpfel schwimmen. Nur einmal singt sie ein Lied. Es erinnert sie an etwas, Finzi und Koch horchen kurz auf, um dann wieder in den stumpfen Nihilismus der Selbstzerstörung zurückzufallen. Ob man hier je wieder Mensch werden kann?

Am Ende jubelt das Publikum seiner eigenen Todesdiagnose zu.

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