nd-aktuell.de / 27.10.2008 / Kultur / Seite 12

Zerfetzt, erstickt

Die Lüge von den »Gefallenen«

Kurt Pätzold

I n den Welkriegen des vergangenen Jahrhunderts sind Millionen deutsche Männer, glaubt man den Nachrichten und Annoncen in Zeitungen und den Geschichtsbüchern, »gefallen«. Trifft das auch auf jene Bundeswehrsoldaten zu, deren Leichname nicht wie im Falle der meisten Weltkriegstoten »in fremder Erde« beigesetzt, sondern begleitet von militärischem Zeremoniell »in der Heimat« zu Grabe getragen werden? Sind auch sie »Gefallene«, wie Jung jüngst meinte? Nicht »für Kaiser und Reich« oder »für Führer, Volk und Vaterland«, sondern – da beginnen die Schwierigkeiten – »bei einem Einsatz«, über den näher zu bestimmen bis in die Reihen derer Meinungsverschiedenheiten herrschen, die behaupten, genau zu wissen, was die Soldaten im fernen Afghanistan sollen und weshalb sie dort hinmüssten.

»Gefallen« – das war (da auch schon mit Einschränkungen) ein noch akzeptables Bild für den Tod in Kriegen, wie sie bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts geführt wurden, in deren Schlachten Soldatenreihen zu Trommelklang aufeinander zu stapften und sich niederschossen. Heute jedoch ist »gefallen« unter den vielen Wörtern, mit denen das Geschehen in Kriegen verschleiert wird, wohl das verlogenste von allen, konkurrenzfähig zu »von einer Feindfahrt« oder von »einem Feindflug nicht zurückgekehrt« oder gar »vor dem Feind geblieben« – Wendungen, die für den Tod im See- oder Luftkrieg gebraucht wurden.

Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Die Verursacher und Führer der Kriege freilich waren und sind da anderer Meinung. »Gefallen« – das ist milde und vermeidet Abschreckung und wirkt als Nachschubsicherung. »Gefallen« besaß schon, bevor das Jahr 1914 geschrieben wurde, den Beiklang von »tapfer« und »Held«. Kriegsmaler und -zeichner hatten die Lüge vom Fallen auf Leinwand und Papier zu bringen, Bildhauer auf Steine. Der dem Feind entgegenstürmende Mann, das Gewehr noch umklammert, von der Kugel schon getroffen und »fallend«. Wie aber wurde in Kriegen wirklich gestorben? Zerfetzt und zerrissen von Kugeln, Granaten und Bomben, verröchelt in Gasschwaden, ertrunken in eisigen Meereswellen, erstickt in zu Särgen gewordenen Unterseebooten.

»Gefallen«? Was für ein unverdächtiges Allerweltswort der deutschen Sprache. Mit und ohne Glatteis fallen zumeist Kleinkinder und Alte, Kurven von Fieberthermometern, Schneeflocken vom Himmel, im Herbst Blätter und Obst von Bäumen und – eben wieder – die Aktien an Börsen, aber nicht oder seltener die Preise. Es fallen Bemerkungen, Kleidungsstücke und – zurück zur Sprache der Krieger – Festungen und auch Städte. Und zu alledem gibt es die »gefallenen Mädchen« und ebensolche »Engel«. Der Duden kennt das Wort »gefallen« als Ausdruck für »im Kriege zu Tode gekommen« nicht, sondern unterrichtet, die heutige Verwendung bedeute so viel wie »zusagen, anziehend wirken, angenehm oder hübsch sein«. Das ließe sich als unausgesprochenes Plädoyer gegen die Beschönigung des Soldatentodes lesen. Die deutsche Sprache besitzt Möglichkeiten, das Ende des Lebens auf Schlachtfeldern zu benennen.

In Kriegen kommen Menschen um ihr Leben und wenn sie wider ihren eigenen Willen in sie befohlen werden, dann steht der Tatbeitrag derjenigen, die das getan haben, außer Frage. »Gefallen«, das lässt sich in jenem Kontext verwenden, den Rosa Luxemburg hergestellt hat: »Die Dividenden steigen und die Proletarier fallen.«