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Freier Fall und totes Seil

Philipp Stölzls filmisches Bergdrama »Nordwand«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Der hohe Berg ist ein Virtuose. Er spielt alles. Er ist Gott, ist Metapher, ist Mythos, ist Analog, eine gewaltige Manifestation der Natur, manchmal nur eine geografische Bezeichnung, dann wieder Sportarena, geologisches Phänomen, ein Eroberungsobjekt. Diese Vielseitigkeit des Berges ernährt ihre Leute, indem sie mancherlei auslöst: Berge haben Furcht erweckt, Anbetung gefordert, Seelen beflügelt, Philosophen erregt, Geologen beschäftigt, Eroberer ins Verderben gestürzt, Nationalisten zum Kampf gelockt, Helden geboren und Helden begraben.

»Nordwand« von Regisseur Phi-lipp Stölzl (Kamera: Kolja Brandt) erzählt die wahre Geschichte nach, die 1936 beim gescheiterten Versuch einer Erstbesteigung geschah: Zwei Berchtesgadener, Toni Kurz und Andreas Hinterstoisser, wagen den Weg hinauf zum noch unberührten Gipfel der Schweizer Eiger Nordwand – parallel zu Hitlers pathetischer Sehnsucht, »das letzte Problem der Alpen« just in Nähe der Olympischen Spiele von Berlin zu lösen. Natürlich national zu lösen: Nur Deutsche zählen als Erstbesteiger.

Der Aufstieg zur Nordwand ist also eingebettet in die Vereinnahmungspraxis nationalsozialistischer Propaganda. Aber indem der Film zwei junge Männer zeigt, die wegen des Bergsteigens ihren Armeedienst quittieren und ihren Ehrgeiz am Fels nicht vordergründig in den Dienst eines politisch aufgepulverten Ruhms stellen wollen, spricht er damit nicht etwa eine Sieg-Heil-Generation frei. Der Streifen bietet ein Zeitbild, aber ist vor allem die Feier jener sportlichen Sinnlosigkeit, die als Impuls zur Tat in der menschlichen Natur angelegt ist, wenn diese nur ein einziges Mal die Verlockung durch Selbststeigerungskräfte erfuhr.

Denn Bergsteigen ist zweifelsfrei, a priori und immerdar, ein sinnloses Tun – dem aber eine Sinnsuche jenseits aller gesellschaftlichen Bedingungen, jenseits von »Heimatliebe« und »Idealismus« zugrunde liegt: Es ist die Suche nach einer Alternative inmitten einer Welt der gemächlichen Bürgerexistenzen. Das ist das Gegenwärtige an jedem Abenteuerfilm, ob er sich die Nordwand hernimmt oder zum x-ten Mal Columbus. Diese unsere Welt der gemächlichen Bürgerexistenzen: Was am Berg der Kitzel wäre, welche Route zu steigen sei, das ist uns doch nur noch die Wahl des Lotto-Systems. Wir füllen Wettscheine aus, als wären es Seekarten. Von Küste zu Küste fliegen wir viel zu routiniert, um noch glauben zu können, drüben läge das ganz Andere. Die Poesie des Verlangens hat das Neuland mit dem Kaufland vertauscht. Aus dem Abenteuer der Hinfahrten ist ein Stillstand mit Rückversicherung geworden. Das alles sind Gründe, das Gesicht einem Berg zuzuwenden und ihm entgegenzugehen. Er wird eine Rechnung ausstellen, deren Betrag erst unterwegs als Schicksal ausgehandelt wird. Davon erzählt dieser Film.

Benno Fürmann (melancholisch versonnen, von eigensinniger Festigkeit) und Florian Lukas (ungestüm burschenhaft, von quirligem Ehrgeiz) sind zwei Verzweifelte des verpassten Erfolges – erschütternd im Untergang, der bei dem einen Fallgeschwindigkeit hat, beim anderen eine grausige Schwebe am toten Seil ist. Johanna Wokalek ist Luise Fellner, die verschämt freche, mehr und mehr aufschreckende Berliner Zeitungspraktikantin, die wegen ihrer Bekanntschaft zu den beiden Jungen zur Reporterin vor Ort wird, zur Bangenden, zur unglücklich Liebenden. Und zur Erwachenden: mit ihr im Hotel der nationalistisch befeuerte, aber menschlich ausgeglühte Zeitungsmann (Ulrich Tukur: ein Zyniker der Sensation); im spielerisch-rhetorischen Pingpong mit einem jüdischen Geschäftsmann (Erwin Steinhauer) ahnt man, was in Deutschland noch alles geschehen wird. In einer kleinen Rolle ganz ergreifend: Branko Samarovski als einsam verschrobener Wärter der Eiger-Bahnstation – man muss in dieses Gesicht schauen, wenn er in einem winzigen Moment die unwirschen Männer der Bergwacht (»wir haben selber Frauen und Kinder«) bittet, trotz des verhassten Rummels am Eiger den Sterbenden da draußen zu helfen.

Die Dramatik am Berg hat eine faszinierend beklemmende Unmittelbarkeit. Die Szenen erinnern an die Sogkraft von Petersens »Boot«, Natur und Mensch im Nahkampf, und immer versucht der Mensch, ungerührt sein Werk zu tun, wie es die Natur tut, aber: Er hat Hände, Haut, einen angreifbaren Körper; alles Mühen um Unberührtheit endet im entsetzlich barmenden Schrei. Der in diesem Film immer so klingt, als habe er als Einziger noch Leben weit über den Tod hinaus. Der gesteigerten Spannung des Films in den Schneefeldern, an den Überhängen, an jedem Grat arbeitet zu, dass das grausamste Gesetz der Bergsteigerei unter bestimmten Extrem-Umständen in der Entsolidarisierung liegt, also in der Reduktion des Menschen auf die Techniken des persönlichen Überlebens. Diese Technik macht einsam, kalt, und jeder ist sich selbst der Nächste, weil sich in der Todesgefahr jeder mehr und mehr der Fernste wird. Indem er fragt: Was mache ich hier? Was nur die Vorstufe zur Frage ist: Wie komme ich heil heraus? Zwar geschieht das tödliche Unglück (ein fehlendes Seil), weil die beiden Deutschen zwei Österreicher nicht allein lassen wollen (einer ist schwer verletzt); es ist also das Erbarmen, das durch zwei Nächte mitten hinein ins Erbarmungslose eines verhängnisvollen Wettereinbruchs führt – aber der Film zeigt in der Notgemeinschaft einer Seilschaft doch, wie sich alles in sehr einzelne kämpfende Körperteile auflöst. Verklebte Augen, vereiste Lippen, krachende Gelenke. Dazu ein Bild- und Geräusch-Inferno, das in geschickten Kontrast gesetzt ist zu eleganten Händen und gedämpftem Wohlgefallen in jenem Hotel in Grindelwald, von wo aus der Aufstieg, eine Touristenattraktion, beobachtet wird.

An Stölzls starkem Film ließe sich dennoch einiges aussetzen, das mit dem Verweis auf eine grobe dramaturgische Musterung beginnen könnte. Aber ich hatte bei diesem Kinobesuch von Anfang an keine Lust, die dafür ausgegebene Lebensspanne von einhundertsechsundzwanzig Minuten als Fehlzeit verrinnen zu lassen. So was hat Folgen. Der Film hat’s sofort gut bei einem, egal, wie gut er ist. Und besser, als es jene obligate Sternchen-Vergabe behauptet, die heutzutage den unintelligenten Zeitungsumgang mit Kunstwerken krönt, ist sowieso jeder Film.

Am Ende sitzt Luise Fellner auf dem Dachplateau eines New Yorker Hauses und fotografiert einen schwarzen Jazz-Musiker. Sie hat sich aus der Zeit der Araus gerettet. Ihr Lächeln, ein Stückchen über der Stadt, steht gegen die Nachwirkung der Tragödie ein kurzes Stück unterm Gipfel. Kitsch wird das nennen, wer Kitsch nicht ab und zu doch mal nötig hat.

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