Von Peking bis Bombay

Die globale Bewegung

  • Marcel Bois
  • Lesedauer: 3 Min.

Im März 1919 notierte der britische Premier Lloyd George besorgt: »Ganz Europa ist vom Geist der Revolution erfüllt. Die Arbeiter sind nicht nur von einem tiefen Gefühl der Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen, wie sie vor dem Krieg bestanden, ergriffen, sondern von Groll und Empörung. Die ganze bestehende soziale, politische und wirtschaftliche Ordnung wird von der Masse der Bevölkerung von einem Ende Europas zum anderen in Frage gestellt.«

Tatsächlich gingen in den Jahren 1917 bis 1920 Millionen Menschen zwischen Barcelona und Moskau auf die Straße. Sie demonstrierten gegen die schlechte Versorgungslage, besetzten Fabriken und bildeten in vielen Ländern Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Sie stürzten die Kaiser Deutschlands und Österreich-Ungarns und den russischen Zaren. Vor allem aber waren es ihre Proteste, die das Ende des Ersten Weltkrieges herbeiführten. Das Zentrum der Proteste befand sich zweifellos in Europa. Doch kämpften zu dieser Zeit Menschen aller Kontinente für ein besseres Leben, für nationale Selbstbestimmung und gegen den Krieg. Nicht wenige ließen sich von der Russischen Revolution inspirieren, wie auch der Historiker Eric Hobsbawm betont: »›Völker hört die Signale‹, so beginnt der Refrain der Internationale in Deutsch. Und diese Signale kamen laut und klar aus Petrograd und aus Moskau … Sie wurden überall dort gehört, wo Arbeiterorganisationen und sozialistische Bewegungen, gleich welcher Ideologie, operierten. Die Tabakarbeiter Kubas, von denen nur wenige überhaupt wussten, wo Russland lag, gründeten ›Räte‹; … revolutionäre Studentenbewegungen entstanden 1919 in Peking und 1918 in Còrdoba (Argentinien), von wo aus sie sich bald über Lateinamerika ausbreiten sollten … Die Oktoberrevolution prägte … auch die größte Massenorganisation Indonesiens, die Nationale Befreiungsbewegung ›Sarekat Islam‹.«

In der nordiranischen Provinz Gilan mündeten Aufstände 1920 in der Gründung einer Räterepublik – der Persischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Ägypten erlebte ein Jahr zuvor massive Demonstrationen und Streiks gegen die britische Kolonialmacht und den Boykott britischer Produkte. Die Proteste führten schließlich 1922 zur Unabhängigkeit des Landes. Die indische Bevölkerung wehrte sich zwischen 1918 und 1920 ebenfalls gegen die Unterdrückung durch das britische Empire. In Bombay beteiligten sich 125 000 Textilarbeiter und -arbeiterinnen an einem Streik. Hier, sowie in Madras und Bengal fanden Hungerunruhen statt, in Kalkutta gewaltsame Proteste von Schuldnern gegen Kreditgeber. Auch die bedeutendste nicht-europäische Siegermacht des Ersten Weltkrieges wurde von der Bewegung ergriffen. 1919 fanden große Proteste in den USA statt, deren Höhepunkt der Streik von 250 000 Stahlarbeitern im September darstellte. Im gleichen Jahr wurde selbst das ferne Australien von einer Streikwelle erfasst.

Diese globale Dimension der Proteste am Ende des Ersten Weltkrieges ist nahezu in Vergessenheit geraten. Zu Unrecht: Nur selten betritt eine Bewegung in diesem internationalen Ausmaß die Bühne der Geschichte. Die Welt musste auf ihre Rückkehr bis 1968 warten.

Der Doktorand aus Hamburg war Mitbegründer der WASG.

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