Die Liebe im Stacheldraht

Frank Castorf inszenierte »Kean« – an der Volksbühne ein Stück auch von Müller und Trolle

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Du fühlst dich ausgesetzt. Textfetzen umkreischen dich, dröhnen. Sie erfüllen die Luft. Kommen von irgendwo her. Sie sind Castorfs Luftwaffe. Stimmen werden hochgetrieben, als hätten Sägen und Presslufthämmer Flügel. Du darfst kein treuer Jünger des Zusammenhangs sein, du wärest verloren in diesen vier Stunden.

Denn da war zwar ein Stück, »Kean«, Komödie von Alexandre Dumas dem Älteren, aber jetzt steht da: Castorf/ Dumas/ Müller/ Trolle. An der Volksbühne hat Frank Castorf wieder sein Assoziations- und Verwirbelungsgetriebe angeworfen, das aus Stücktexten irre, wirre brachial spieltobende Kassiber gegen jenen Ernst macht, bei dem sich Schwere und Gewalt der Welt theatralisch fassbar, dicht, folgerichtig zusammendrängen.

Erzählt wird vom berühmtesten Shakespeare-Darsteller des 18. Jahrhunderts, der sich durch den Ruhm spielt, säuft, hurt. London fand den Superstar! Aber für den Adel bleibt Kean der aussätzige Clown – dieser beleidigte Selbstwert macht ihn, zwischen anstrengend amourösen Verwicklungen, zum rebellischen Oberklassen-Hasser. Keans Erfahrung, als Gaukler sozial gemieden, verachtet, benutzt zu werden, wirft ihn in die erschütternde Krise, die er gleichsam mit seinen Figuren ausmacht. Das Schöne, das ihm die Kunst zuwirft, wird ihm im Leben wieder entrissen – und nur in diesem Schmerz, als Mensch nichts zu gelten, spürt Kean, wie tief dieses Schöne in ihm wirkt. Es ist von diesem Gedanken nicht weit bis zum mahnenden Zynismus: Es bedarf also erst der schreienden Abkehr vom Menschen, um zu begreifen, dass wir nur in Nähe zueinander lebensfähig sind; immer erfahren wir erst durch Entzug, was uns fehlt. Das meint versunkene geistige Welten, vertrunkenes Geld, vertane Liebe.

Ausgelegt ist auf der Bühne von Hartmut Meyer eine dicke Folie, grüner englischer Rasen. Ganz hinten geht der steil bergan, eine Art Halfpipe. Dort hinauf wird Kean seine Wut jagen, und er schafft's bravourös bis oben. Am rechten Bühnenrand steife Flaggen, Dänemark, EU, Junion Jack. Darunter sitzt Steve Binetti, altes musikalisches Volksbühnen-Inventar, noch aus der »Clockwork Orange«-Ära, hohe freie Stirn, lange Mähne; Rocksteinzeit, Castorfs ewige Moderne der E-Gitarre. Jetzt kann der Abend kommen, und er kommt – aber er geht nicht wieder. Heimgang erst nach Mitternacht.

Castorf bleibt stur. Durchhalten ist wichtiger als Niveau halten oder Spannung halten oder einfach anhalten. Am Ende soll die Erschöpfung mitreden dürfen. Man hat das selten bei Regisseuren: dass man sich immer im gleichen Werk wähnt, in der immer gleichen Impulsschleife; man hat das also bei Castorf alles schon durch, die Explosion der Zustimmung und das unwirsche Verdämmern. Man hat seinen dunkel pochenden Existenzialismus durch und den aufgedreht ätzenden Spott. Man hat das alles durch, und ich gestehe nach diesem Abend – der nicht sein bester war – dennoch die Lust, dies auch weiterhin durchzuhalten als einmalige Art, Theater zu machen.

Seltsam: Castorf versagt sich hier jede offene, schwere Melancholie des zwischen Sein und Schein zerrissenen Kean; er jagt den Schauderton seines Schrillbudenplatzes mitten durch die scheue flüchtige Anmut einiger flehender, leiser Sätze. Sorgsamst ist er darauf bedacht, dass Oberfläche und Tiefe, Würde und Verkrüppelung rücksichtslos ineinandergreifen. Jedes Gefühl ruft nach seiner Diffamierung. Was sich im Gemüt setzen will, wird aufgescheucht.

Da wird im Sit-in Lifestyle-Kultur parodiert, da wird der Liebhaber-im-Schrank-Plot in eine polternd direkte Penetranz hineingehauen, da wird klagend Schiller gefordert und als Kenntnis-Beweis Goethe zitiert, da werden Schauspieler-Bewerbungen zu Belegen einer totalen Existenz-Verirrrung, da wirft sich der Liebesakt ins Stacheldrahtverhau, und am Ende wird Kean sogar am Stacheldrahtgestell gekreuzigt. Aber alles ohne diese wirklich tragische Wucht eines Lebens, das nur im Spiel groß sein darf.

Heiner Müllers Versbrocken »Hamletmaschine«, diese Kapitulation der Gedanken vor den Mägen; dieser Abschied des Theaters von einem Publikum, das lieber auf die Straßen geht; diese Scham der Utopie vor der Autorität des Schlachtmessers – Castorf baut diesen Müller (»abgezockter teutonischer Name«!) in den »Kean«, dazu treibt er seine halbnackten, hochhackigen Weiber in engste Papphäuschen – dort zu fortwährender Um- und Umwälzung der Körper; Masse als Arm und Bein und wieder Arm und Bein, und was da gleichsam durch den Fleischwolf der Geschichte gepresst wird (draußen steht die sonst so verdutzt-wehmütige Jeanette Spassowa, nun in Rausch gekommen, und schwingt wie ein Revolutionsroboter durchladend ihre Knarre), das ist eine Austreibung des Geistes durch dilettantische Schauspielkunst. Ja, trotzdem Kunst: Denn Castorfs stoische Pflege einer ungelenken, unausgeformten Spielweise ist sein bleibendes Polemikpotenzial gegen die Virtuosität von psychologischen Versenkungen und einer ausgefeilter Darstellungstechnik. Hier haben Sportler die Kunst besetzt, Aufführung ist Training, und auf dieser Bühne weiß jeder, dass ihm immer nur Letztes abverlangt wird, nicht Inneres.

Volksbühne – das ist der Reste- Tisch des Theaterschlussverkaufs. Sich mit Stolz niedrig spielen, sich schwitzend billig präsentieren, die Verachtung über das eigene Unglück austoben – das ist die wüste, nackte, tolpatschig erotische Ehrlichkeit, die der gängigen Hochwertökonomie (auch dem Kunstgeschäft der Schön- und Seelenspieler) Widerstand leistet. Da hat Sektenführer Castorf noch immer Ausdauer: Er mag Wahrheiten, die keine Freunde brauchen. Auch nicht im Publikum. Gott rächte sich am Menschen, indem er ihn liebte. Castorf rächt sich am Theater, indem er immer so weiterspielt, wie er immer spielte.

Und wie immer bei Castorf, kann auch in »Kean« der Widerspruch nicht größer sein zwischen der quälerischen Klugheit von Gedanken, die einem kommen, und der Dumpfheit der Gesichter, die man sieht. Sind immer so Castorf-Fragen, die durch jede Aufführung zu uns herübersickern: Warum spiele ich? Warum inszeniere ich? »Aus Liebe zur Kunst?« Fragt die Aufführung. Nein, natürlich nicht. Einer singt, weil er ein Sänger ist. Einer inszeniert, weil er seinen Gedanken einen Platz in der Welt schaffen muss. Mehr nicht. Das Publikum liefert dafür nur Augen und Ohren. Wie einsam wird, wer sich in der Kunstausübung treu bleibt? Und wie grausam öde muss, darf einer gegen andere (etwa Publikum) sein, um Ich bleiben zu können? Castorf quälte das Theater schon immer mit Fragen, die es nicht beantworten kann. Er wurde aber autistischer, unversöhnlicher im Willen zur Hermetik. Familienleben eben: eingespielt, in der Mechanik durchsichtig, absichtsvoll kindisch.

Obwohl er hier durch den Dichter Lothar Trolle Berichte von rebellischen Aufständen und von fast foltergleicher Kinderarbeit an Webstühlen ins Stück montieren lässt – durchdringend hart, heutig wird das diesmal nicht. Am einschneidensten kalt: Silvia Rieger, die als Lady die hochfahrende Abfuhr des Adels gegen den Emporkömmling Kean in einen manirierten Monolog fasst, so böse funkelnd wie komisch starr.

Alexander Scheer ist Kean. Die absolute Majestät des Abends, meist in Unterhose. Den besoffenen Schauspieler, überhaupt den hinstürzenden Menschen verwandelt er in ein blitzschnelles Zusammenklappen, bei dem sich vorher alle Knochen aus dem Körper verflüchtigt haben müssen. Irgendwann schaue ich nur noch auf seine blutenden Knie. Scheer ist ein Vogelkopf, als schnappe er nach Nahrung, die den Liebeshunger stillen soll. Oder er hackt zu. Ein spillriger Typ, bei dem sich das Schicksal nicht entscheiden konnte: Soll ein Gundermann draus werden oder ein Kinski. Scheer macht das Beste draus: sich. In Hamburg spielte er einen artistisch durchglühten, theatertreffenreifen Othello, auch als Kean tunkt er sich schwarz, springt, jagt, wieselt, boxt, japst, spuckt, singt, rockt, verfällt in einen grandiosen, umjubelten Mick-Jagger-Moment, kauert, schreit, kriecht, krümmt sich, reckt sich. Oder steht Minuten stumm in seinem Elend. Spielt sich wund und leer, bis eine Frage des Stücks, die mancher sicher auch an Castorf stellen möchte, irgendwann womöglich einzig nur ihm gelten wird: »Wo ist der Theaterarzt?«

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