Zweideutigkeiten des Gedenkens

Eine Affäre beim 50. Jahrestag der Novemberpogrome

  • Jürgen Reents
  • Lesedauer: 4 Min.

Zum 70. Jahrestag der Novemberpogrome kommt der Bundestag nicht zu einer eigenen Gedenkveranstaltung zusammen. Dem Parlament reichte am 4. November die Verabschiedung einer Entschließung gegen Antisemitismus. Das Vorfeld prägte ein überwiegend würdeloser Streit: Die Union beharrte darauf, die Linksfraktion von einem gemeinsamen Text auszuschließen und instrumentalisierte auch die Plenumsdebatte zu absurden Vorwürfen gegen die Linke.

Das Gedenken an die Verbrechen der Nazi-Herrschaft wie auch die ernsthafte und nicht selbstgerechte Diskussion darüber ist dem Bundestag seit jeher schwergefallen. Während der ganzen Zeit ihrer Existenz als Westrepublik empfand die Bundesrepublik es als überflüssig, die Erinnerung an den Nazi-Terror und seine Opfer in Form eines Gedenktages wachzuhalten. Ein offizieller »Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus« (»Holocaust-Gedenktag«, 27. Januar) wurde erst nach der deutschen Vereinigung proklamiert, zögerlich und nicht vom Bundestag, sondern vom Bundespräsidenten 1996, nachdem die damalige PDS-Fraktion diesen mehrfach angemahnt hatte. Frühere Bemühungen der Grünen waren regelmäßig abgeprallt. Schon nach ihrem ersten Einzug in den Bundestag, 1983, hatten sie zum 8. Mai, dem Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, vergeblich ein solches Gedenken eingefordert.

Wahrlich nicht in guter Erinnerung ist eine Gedenkstunde, zu der der Bundestag 1988 anlässlich des 50. Jahrestages der Novemberpogrome zusammentrat. Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU) hielt eine höchst zweideutige Rede, in der er bisweilen nicht zu erkennen gab, was er aus dem »Zeitgeist« während der Nazi-Ära referierte und zitierte, und was seine eigene Ansicht war. Auf dem Gipfel seiner Zweideutigkeiten sprach er von einem »politischen Triumphzug Hitlers« in den Jahren 1933 bis 1938, der »selbst aus der distanzierten Rückschau und Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum ist«. Walter Jens erinnerte damals in einer Analyse dieser befremdlichen »Gedenkrede« daran, dass die »Triumphe« Hitlers schon in den Anfangsjahren seiner Herrschaft »mit der Entwürdigung, mit dem Foltern und dem sadistischen Quälen von Tausenden Sozialdemokraten, Kommunisten, Christen und Pazifisten erkauft waren«, und die »große Hetzjagd« gegen die Juden nur möglich war, weil »die Schar der Gerechten so klein war in unserem Land – und darum die Zahl der Opfer sehr groß«. Jenninger musste wenig später zurücktreten.

Der Jenninger-Skandal und seine formidable Rücktrittslösung überdeckten zugleich eine andere Affäre, die nicht nur der Bundestagspräsident, sondern CDU/CSU, FDP und SPD gleichermaßen zu verantworten hatten. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, war im Juni 1988 in die DDR-Hauptstadt gereist und hatte Erich Honecker seine Idee von zwei parallelen Gedenkveranstaltungen der Volkskammer und des Bundestags zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome vorgetragen. Dieselbe Idee offerierte er anschließend in Bonn dem Bundestagspräsidenten. Galinskis Absicht war, eine gemeinsame Haftung von BRD und DDR gegenüber den deutschen Verbrechen an den Juden zu dokumentieren, eventuell sogar eine gemeinsame Erklärung zu erreichen. Die DDR sagte im August 1988 eine Sondersitzung der Volkskammer zu, die Bundesrepublik hielt sich zunächst bedeckt.

Als die Planungen der Volkskammer für eine Gedenkveranstaltung am 8. November konkret wurden, auf der der Volkskammer-Präsident Horst Sindermann und der Präsident des Verbandes der jüdischen Gemeinden in der DDR, Siegmund Rotstein, sprechen sollten, drängten auch die Grünen darauf, dass der Bundestag eine Gedenkveranstaltung mit Ansprachen seines Präsidenten und dem Repräsentanten der Juden in der Bundesrepublik, Heinz Galinski, abhalten sollte. Doch Galinski war den anderen Fraktionen des Bundestages nicht willkommen. Sie verübelten ihm seinen »deutschlandpolitischen Alleingang«, und nicht weniger, dass er sich nicht scheute, die DDR mit weiteren Besuchen – so im Oktober 1988 zur Ausstellung »Und lehrt sie: Gedächtnis« im (Ost-)Berliner Ephraim-Palais – »aufzuwerten«, sogar den DDR-Orden »Stern der Völkerfreundschaft« nicht ablehnte.

Die Angelegenheit endete mit einer Blamage für die Bundesrepublik, die in ihrer ganzen Dimension jedoch kaum mediale Aufmerksamkeit erfuhr (nur der damalige FR-Redakteur Helmut Lölhöffel hatte sich die Finger wund geschrieben): Die Volkskammer gedachte am 8. November mit Ansprachen von Sindermann und Rotstein, Galinski saß als Ehrengast mit im Präsidium – der Bundestag folgte zwei Tage später mit erwähnter Jenninger-Rede, Galinski wurde eine Ansprache verwehrt, seine Idee mithin torpediert. Das Neue Deutschland berichtete mit vier Seiten über das Gedenken an die Opfer der faschistischen Novemberpogrome in der DDR.

Etliche Unions-Politiker, die vor und am 4. November dieses Jahres so vehement Versäumnisse der DDR im Kampf gegen Antisemitismus anklagten (womit nicht dementiert ist, dass es diese auch gab), sind übrigens noch nicht so alt, als dass sie diese »Episode« vor 20 Jahren nicht bewusst erlebt haben könnten.

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