Die Zigarre

Artur K. Führer erinnert sich

  • Lesedauer: 5 Min.

Bei uns im Dorf waren die Leute weder reich noch arm. Eines waren sie sicher: sparsam. Oft auch geizig. Hier im Windschatten der Wartburg konnte keine Familie allein von der Landwirtschaft leben. Um so härter war der Alltag: nachts im Dienst der Reichsbahn oder unten im Kalibergbau – tagsüber: auf dem Feld, von Montag bis Sonnabend. Genauer: bis fünf Uhr nachmittags am Sonnabend. Denn da läuteten die Dorfglocken das Wochenende ein.

Bis zu dieser Stunde musste die Straße, die »Gass«, gekehrt sein. Und wehe, danach fuhr noch ein Bauer durch die »Gass« – mit der Spur von »Pferdeäppeln« oder »Kuhbladdr« (Kuhschiss) – der wurde bestraft mit einer »Runde« mit DORF-Krug. Aber das war selten. Sonnabend Badetag. Und der Sonntag war »heilig«, wirklich Arbeitsruhe, außer zur Heuerntezeit bei drohendem Gewitter.

Vater war Raucher, genauer: Zigarrenraucher. Während der Arbeit in der Woche kaum oder gar nicht. »Das verträgt sich nicht«, meint er. Vater war eben ein Genussraucher. Früher hat er Zigaretten gepafft – aber seit Langem raucht er nur noch gute, wohlriechende, nicht gerade billige Zigarren mit »Bauchbinde«. Nach einem Kauf oder Verkauf mit Viehhändler Baruch schenkt ihm Moses ein »Kistchen Zigarren«, als Dankeschön für die freundliche Zusammenarbeit.

Einige Bauern im Kreisgebiet distanzieren sich bereits von Baruch, »wegen der Rasse und so«. Vater Heinrich lehnt die NS-Propaganda gegen Juden ab und musste schon mal beim Kreisleiter NSDAP in Eisenach zur »Abmahnung« erscheinen. Auch dort hat er keinen Rückzieher gemacht – und auf seine guten Erfahrungen mit Soldaten jüdischen Glaubens im Weltkrieg hingewiesen. Vater war Offiziersstellvertreter mit EK I – für einen Dörfler eine »achtbare Leistung«. Sonntag, nach dem Mittagessen, saß Vater gelassen auf unserem Chaiselongue, löste genüsslich die Bauchbinde von der Zigarre, mit einem kleinen Kurzmesser kerbte er die Spitze an, griff lustvoll zum Streichholz und zog und zog Luft, bis sie »angesteckt« war. Bei besonders guter Laune versuchte er Kringel in die Luft der guten Stube zu zaubern. Das klappte ziemlich selten, weil er den Mund wohl nicht rund genug geöffnet hatte oder ein kurzer Kratzhusten dies verhinderte.

Welch ein angenehm-herrlicher Duft waberte durch den Raum! Später mache ich das auch mal so, aber jetzt mit acht Jahren ist es wohl noch zu früh, sinnierte ich altklug: Es war am 10. November 1938: Ich wollte Onkel Karl und Tante Toni in unserer nahen Wartburgstadt besuchen. Aber ich kam nicht bis zur Altstadtstraße 36. In der Bahnhofstraße und am Karlsplatz erlebte ich etwas »Aufregendes«. Uniformierte, einzeln und im Trupp, zerschlugen Schaufensterscheiben. Auch Fanatiker in Zivil »zelebrierten Volkszorn« an jüdischen Geschäften. »Juda verrecke!« schrieen im Chor die Braunhemden und verwüsteten die Auslagen und Inneneinrichtungen jüdischer Ladenlokale. Unter Applaus zerrten sie Menschen durch die Straßen und schlugen im Takt auf sie ein, mit dem »Judenpack«. Da wurde ich wieder daran erinnert, was JUDEN sind: »schlechte, miese Menschen«, hat uns der Lehrer in der Volksschule gesagt.

In der Bahnhofstraße drängten sich »zornige Bürger« in einen jüdischen Tabakladen hinein, räumten alles ab: Sie klauten Kartons mit Zigaretten, Behälter mit Tabaksbeuteln und schleppten die verschlossenen Zigarrenkisten hinaus. In diesem Tumult knallte ein Kistchen auf den Boden, der Holzdeckel sprang auf und die Zigarren rollten auf den Bürgersteig. Eifrig wurden sie eingesammelt – bis auf eine, die im Schatten einer Stufe lag. Die Gelegenheit ist günstig ... »Gehört nicht mehr dem Jud« ... Fix griff ich nach ihr – und ging zurück zum Karlsplatz. Viele Leute sahen zu. Einige der Zuschauer feuerten die »Stürmer« noch an. Aber die meisten schwiegen. Waren wohl einverstanden. Auf dem Heimweg dachte ich: Muss das so sein? Ich werde meinen Lehrer fragen ...

Hier, Vater, hab dir Gutes mitgebracht: ne dicke Zigarre mit Bauchbinde – und überreichte sie ihm. Zunächst freudig, dann aber wurde er traurig, als ich erzählte, woher ... Vater schimpfte nicht, aber unmissverständlich befahl er: Die bringst du sofort zurück!

– Wohin denn? – Dorthin, von wo du sie hergebracht hast! Diese Zigarre schändet meine christliche Nächstenliebe ...

Den Zusammenhang konnte ich überhaupt nicht begreifen. Wagte aber auch nicht, nachzufragen. Am nächsten Tag ging ich wieder in die Stadt, zur Bahnhofstraße, zum Tabakladen. Ließ die wenigen Passanten vorübergehen und steckte dann rasch die Zigarre durch die schmale Öffnung im Bretterverschlag, der nun die Schaufensterscheibe ersetzte.

Während des Zweiten Weltkrieges hat Vater keine Zigarren geraucht, nur Tabakkrümel in der Pfeife.

Herbst 1945: Unsere Goethe-Oberschule in Gerstungen »nimmt den Lehrbetrieb wieder auf«, amtlich. In den oberen vier Klassen fehlen Schüler – auch in meiner Klasse bleiben drei Plätze »unbesetzt«. Irgendwo zwischen Mühlhausen und Dolorstadt, zwischen Berka und Thüringer Wald liegen sie unter der Erde. Ein Holzkreuz erinnert an sie. Vielleicht.

Wenige Tage später, nach dem 1. Oktober, rauchte mein Vater die erste Zigarre nach dem Krieg und ich erfuhr von ihm, warum er damals die Zigarre nicht angenommen hatte. Ich begriff. Und war untröstlich. Ich schämte mich. Und ging zu meiner Mutter.

– Dass du dich schämst, verstehe ich. Auch ich schäme mich, sagte Mutter, meine Schuld ist keine Täterschaft, meine Schuld liegt im Schweigen – damals.

Mutter, Dorfdichterin im Wartburgland, gehörte der »Bekennenden Kirche« (Niemöller) an.

Artur K. Führer, Jg. 1929, ist Autor von Lyrik und Kurzprosa.

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