Nichts gelernt

  • Conrad Taler
  • Lesedauer: 3 Min.
Der 1927 geborene Journalist und Buchautor lebt in Bremen.
Der 1927 geborene Journalist und Buchautor lebt in Bremen.

In den Rückblicken auf die Pogromnacht vom 8. auf den 9. November 1938 kommt die Vorgeschichte häufig zu kurz. Aber gerade sie ist wichtig, weil sich daraus Schlussfolgerungen für die Gegenwart ergeben. Nur weil es den Nazis gelungen war, die jüdische Minderheit durch eine gezielte Hetzkampagne aus der menschlichen Gemeinschaft auszugrenzen, konnten sie die Synagogen ungehindert in Brand setzen und unschuldige Menschen ermorden. Wie leicht ganze Völker auch heute noch manipuliert werden können, hat die Irreführung der Welt durch die USA im Falle des Irakkrieges gezeigt.

Nach den Schrecknissen der Naziherrschaft hätte es gerade in Deutschland nie wieder zur Ausgrenzung einer Minderheit kommen dürfen. Aber das Gegenteil geschah. Erst kurz vor ihrem Ende versuchte die DDR, ihr gestörtes Verhältnis zum jüdischen Staat und ihren jüdischen Mitbürgern in Ordnung zu bringen, so dass sich auch der eine oder andere aus dem Widerstand gegen Hitler nicht mehr fremd zu fühlen brauchte unter seinesgleichen.

In der Bundesrepublik wurden Gegner der deutschen Wiederbewaffnung, der Notstandsgesetze und der Berufsverbote, unter ihnen viele Opfer des NS-Regimes, als Verfassungsfeinde und Handlanger Moskaus beschimpft und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Als die Polizei 1952 in Essen bei einer Protestveranstaltung gegen die Wiederbewaffnung einen kommunistischen Demonstranten erschoss, war die Ausgrenzung bereits so weit gediehen, dass die gesamte sogenannte unabhängige Presse darüber kommentarlos hinwegging. Der »Spiegel« und die Hamburger »Zeit« unterschlugen das Thema sogar nachrichtlich.

In diesem Klima gelangten tausende alter Nazis wieder zu Ansehen und Einfluss. Ihre antikommunistische Gesinnung entsprach der bundesrepublikanischen Staatsdoktrin und galt als Nachweis demokratischer Zuverlässigkeit. Und heute? Dieselbe Partei, die den Opfern des Holocaust den Kommentator der Nazi-Rassengesetze, Hans Globke, als Staatssekretär im Bundeskanzleramt zumutete, dieselbe Partei, deren Bundespräsident Lübke dem wegen Auschwitzverbrechen verurteilten IG-Farben-Manager Bütefisch das Bundesverdienstkreuz verlieh, dieselbe Partei, die den Antisemitismus durch die Behauptung verharmloste, die Schändung jüdischer Friedhöfe werde von kommunistischen Geheimdiensten inszeniert, um Deutschland zu schaden, dieselbe Partei wirft heute der demokratischen Linken Antisemitismus vor!

Solange die Erinnerung an den Naziterror immer wieder dazu missbraucht werden kann, dass gewisse Leute aus parteitaktischen Gründen ihren ganz und gar unchristlichen Hass auf einen politischen Gegner ausleben, statt sich im Sinne der Opfer auf den gemeinsamen Kampf gegen Neonazismus und Antisemitismus zu orientieren, solange kann nur eingeschränkt davon die Rede sein, dass Deutschland, wie Bundespräsident Köhler kürzlich meinte, aus der Geschichte gelernt hat.

Der unter dem Autorennamen Conrad Taler publizierende Kurt Nelhiebel war Rundfunkreporter von Radio Bremen und berichtete in den 60er Jahren für die Zeitung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien vom ersten Auschwitzprozess in Frankfurt am Main. Seine Reportagen wurden 2003 vom PapyRossa-Verlag als Buch »Asche auf vereisten Wegen« nachgedruckt. In »Der braune Faden« (2005) befasste er sich mit der verdrängten Geschichte der BRD.

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