Freude am Wort

Der Schriftsteller Peter Härtling wird 75

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.
Freude am Wort

Er war vierzehn, als er zu schreiben begann, und er hatte eine »kaputte Kindheit« hinter sich. Der Krieg war zu Ende, der Vater in der Gefangenschaft umgekommen, die Mutter hatte sich das Leben genommen. Er lebte in Nürtingen unter lauter alten Nazis, »die plötzlich schnelle Demokraten waren, auch in der Schule«. Er wehrte sich, indem er seine ersten Verse schrieb. Als er mit einem Gedichtband debütierte, war er noch nicht einmal achtzehn. Von da an, sagt er, »war das Schreiben ein Stück meines Lebens«. Es folgte ein Roman, der vom Krieg handelte (»Im Schein des Kometen«), und später, 1964, ein zweiter, der sich »Niembsch oder Der Stillstand« nannte, eine »Suite« in Prosa über den Dichter Nikolaus Lenau, die Zeit und die Erinnerung. Seitdem ist Peter Härtling einer der beliebtesten Schriftsteller des Landes.

Alles, was er in seinem Leben tat, hatte mit Büchern zu tun. Er arbeitete im Feuilleton eines Lokalblatts, war Literaturchef der »Deutschen Zeitung« und Verlagsleiter bei S. Fischer. Dort hatte er alles, wonach andere sich sehnen: Geld, einen Dienstwagen, einen Fahrer. Nur Zeit zum Schreiben hatte er nicht. Zum Schreiben blieben nur die knappen Abend- und Nachtstunden. Eine Weile kämpfte er tapfer gegen Müdigkeit und Erschöpfung, doch dann siegte die Einsicht, dass man so nicht weitermachen kann. Er kündigte. Er nahm die materielle Unsicherheit in Kauf, setzte sich hin und erzählte eine Geschichte zu Ende, die ihm vorher immer wieder entglitten war. Sie handelte von Katharina Wüllner, der Tochter eines Dresdner Fabrikanten, die ihrer Familie früh den Rücken kehrt und siebzig Jahre deutscher Geschichte am eigenen Leib erfährt. Der Roman hieß »Eine Frau« und war 1974 ein Erfolg. Er war der erste in einer Serie von Romanen, die von den Erschütterungen und Schrecknissen der 20. Jahrhunderts erzählen. Daneben entstanden Härtlings eindrucksvolle Bücher, die sich ins Dasein großer Dichter und Musiker versenken, weitere Gedichtsammlungen, Aufsätze und eine Menge Geschichten für Kinder.

Seinen Lesern ist alles vertraut. Sie kennen die Straßen der Kindheit und die Orte, in denen der Halbwüchsige nach Lesbarem forschte. Er hat sie, in Gedichten und im Essay, mit nach Olmütz genommen und auch nach Zwettl, die österreichische Stadt, in der er 1945 den Einmarsch der Russen erlebte und die ihm später den Titel lieferte für einen kleinen Roman. Sie kennen die Bilder, die er sich in seinem Buch »Nachgetragene Liebe« vom Vater machte, sie wissen, wie es war, als die Mutter, verzweifelt und mit den Kräften am Ende, vor dem Leben kapitulierte, und sie waren dabei, als er sich, ein junger Bursche noch, mit dem verharmlosenden Gerede über die Naziverbrechen herumschlug. Härtling hat ihnen von fernen Gestalten erzählt, Poeten wie Hölderlin, Waiblinger, Mörike und E. T. A. Hoffmann, Musikern wie Schubert und Schumann, und sie dabei jedes Mal an seinen Schreibtisch, in seine Gegenwart geholt. Das Arbeitszimmer, in dem er eine Weile mit Hölderlin verbrachte, haben sie so deutlich gesehen wie das Tübinger Stift und die Stube überm Neckar. Er war, wenn er sich fremden Realitäten stellte, nie unsichtbar, nie ohne eigene Geschichte, und manchmal, wenn man die respektable Reihe seiner Publikationen mustert, kommt es einem vor, als habe er von Anfang an Stimmen und Augenblicke gesammelt, Sätze und Szenen für einen Bericht über sein Leben. Einen ersten Anlauf unternahm er in seinem schmalen Buch »Herz-wand», dem er 1990 den Untertitel gab: »Mein Roman«. Er war fast siebzig, als er dann »Leben lernen« schrieb, die Autobiografie.

Da hat er noch einmal erzählt, wie alles anfing. Hoch hinaus wollte er, vielleicht sogar als Schauspieler auf die Bühne, aber bei der Aufnahmeprüfung fiel er prompt durch. Er war eine lange Bohnenstange, »ein Flüchtlingsbub, der sich anmaßte, anders zu sein«. Für die Mitwelt war er nur der »verrückte Poet«. Aber er setzte sich durch. Schreiben, hat er vor ein paar Jahren geäußert, »ist wie ein Sog, der mich wachhält«. Einer seiner Freunde meinte schon früh, er sei ein Besessener, einer, der nicht aufhören kann, Geschichten zu erzählen, Worte zu finden. Dabei war er nie jemand, der sich vom Schreibtisch nicht loseisen lässt. Das stille Kämmerlein war nie sein ideales Gehäuse. Dazu hatte er schon als Kind zu viel gesehen. Die Schrecken des Krieges, traumatische Erlebnisse, blieben gegenwärtig, und je älter er wurde, umso sensibler und energischer reagierte er auf Barbarei, Gleichgültigkeit, Verdrängung, Intoleranz. »Ich wehre mich gegen den Erinnerungsverlust«, schrieb er 1985, »die Geschichtslosigkeit, gegen die am Tag haftenden, kleinmütigen Wörter der heute Herrschenden …«

Er ist älter geworden, die Treppen, die er steigen muss, kommen ihm höher vor, der Atem geht schwerer, an manchen Tagen, so bekennt Härtling am Schluss seines Erinnerungsbuches, ist die Müdigkeit unbesiegbar, und Schmerzen treten auf, die es vorher nicht gab. Die Rebellionen des jungen Mannes liegen weit zurück. Geblieben ist die Lebenslust, die Neugier und die Freude an den Wörtern.

»Peter Härtling – Spurensuche in Zwettl« heißt ein Film von Ute Heers, der heute, 23 Uhr, im SWR Fernsehen gesendet wird.

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