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Italienreisender, Künstler und Partisan

Willi Sitte wird die Ehrenbürgerschaft von Montecchio Maggiore verliehen

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 6 Min.
Bis heute erhaltene Wandzeichnungen im Rathaus von Monteccio Maggiore (r.).
Bis heute erhaltene Wandzeichnungen im Rathaus von Monteccio Maggiore (r.).

Deutsche Maler hat es seit jeher nach Italien gezogen. Albrecht Dürer brach 1494 und 1505 zu zwei längeren Studienreisen in den Süden auf. Zu Goethes Zeiten ließen sich die Maler des Lukasbundes sogar für längere Zeit in Rom nieder. Willi Sitte, wirkungsmächtiger Maler des sozialistischen Realismus, hat in jungen Jahren ebenfalls die Kunst aus Antike und Renaissance am ursprünglichen Ort kennen gelernt. Er hat Venedig gesehen und in Vicenza und Mailand gemalt. In der lombardischen Metropole hatte er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sogar eine erste Ausstellung. Sittes Weg nach Italien war indes komplizierter als der der meisten früheren Künstler. Und die Spuren, die er hinterlassen hat, sind komplexer.

Mit Freude, Respekt und Stolz

Manche Rekonstruktion von Geschichte beginnt mit einem Passierschein. Ein solcher, ausgestellt am 3. Mai 1945 vom Bürgermeister der gerade von Partisanen befreiten Kleinstadt Montecchio Maggiore im Norden Italiens, erlaubte dem deutschen Kriegsgefangenen Walter zu Putlitz den freien Aufenthalt. Walter zu Putlitz hatte den Partisanen des Nationalen Befreiungskomitee im Veneto geholfen. Ein anderes Dokument, datiert auf den 18. Mai 1945 und ebenfalls unterzeichnet vom Bürgermeister Giovanni Giuliari sowie vom Präsidenten des Nationalen Befreiungskomitees Giuseppe Muraro, bestätigte, dass ein gewisser Vilem Sitte, erst Soldat, später Deserteur der 90. Motorisierten Infanteriedivision, der antifaschistischen Befreiungsbewegung zur Seite gestanden hatte, indem er sie mit Waffen und Informationen versorgt sowie gefangene Partisanen unterstützt hatte. »Vilem Sitte« ist Willi Sitte. An den damals 23-jährigen deutschen Soldaten und seinen Freund erinnern sich die Einwohner von Montecchio Maggiore noch heute mit Freude, Respekt und Stolz.

»Willi Sitte und Walter zu Putlitz haben in dem gleichen Haus gewohnt, in dem meine Großeltern gelebt haben. Als junges Mädchen habe ich die beiden daher oft gesehen. Sie haben sehr schnell Italienisch gelernt und konnten sich mit den Leuten im Ort verständigen«, erzählt Lucia Muraro. Ihr Vater Giuseppe, Chef der lokalen Partisanengruppe, hat unter dem Deckmantel eines Verwandtenbesuchs Sitte und Putlitz öfter aufgesucht und den beiden Deutschen dabei auf den Zahn gefühlt. »Es hatte sich herausgestellt, dass Willi Sitte kein Nazi war und eher kommunistischen Idealen anhing«, berichtet die alte Dame, die immer noch in Montecchio Maggiore zu Hause ist.

Aus vorsichtigen Gesprächen erwuchs eine Zusammenarbeit. »Willi Sitte hat den Partisanen geholfen. Ich erinnere mich, wie er rechtzeitig mitteilte, dass eine Einheit der Wehrmacht in die Berge zur Jagd auf die Partisanen aufbrechen würde«, sagt Muraro. Im Gedächtnis geblieben ist den Einwohnern des Ortes auch, dass es Willi Sitte gelungen ist, Geiselerschießungen zu verhindern. Luciano Chilèse, Stadtrat für Kultur, berichtet: »Nachdem ein Soldat der Wehrmacht nachts erschossen worden war, wurde eine Liste mit Einwohnern zusammengestellt, die als Vergeltungsmaßnahme getötet werden sollten.«

Das Racheverhältnis hatte damals eins zu zehn betragen. »Der deutsche Soldat war eher aus Versehen umgekommen«, meint Chilèse weiter. »Zwei Partisanen hatten erfolglos versucht, einen Kameraden aus dem Krankenhaus zu befreien. Auf dem Heimweg trafen sie auf den Soldaten, der seinerseits zu seiner Unterkunft wollte. Sie erblickten die Uniform und eröffneten das Feuer. Als die Nachricht der geplanten Geiselerschießungen die Runde machte, ist Willi Sitte ins deutsche Hauptquartier aufgebrochen und hat den Vorfall als eine Streitigkeit aus persönlichen Gründen dargestellt. Die Vergeltungsmaßnahmen wurden abgeblasen.«

Chilèse erzählt, dass Sitte von einem seiner Vorgesetzten losgeschickt worden war, die Geiselerschießungen möglichst zu verhindern. »Es herrschte eine besondere Situation. Die wenigsten Soldaten hier waren überzeugte Nazis. Unter den 50 hier untergebrachten Soldaten gab es vielleicht einen einzigen, der bis zum Ende Krieg führen wollte. Die anderen versuchten irgendwie zu überleben«, beschreibt Lucia Muraro die damalige Zeit. «

Die frühen Werke wurden erhalten

Die kleine Stadt Montecchio Maggiore, die bislang nur dafür bekannt war, dass ihre Zwillingsfestung einst den verfeindeten Veroneser Familien Capulet und Montecchio übergeben wurde, damit diese über die notwendige militärische Kooperation auch zu Frieden untereinander fänden, muss am Ende des Zweiten Weltkriegs ein Ort jenseits des Krieges gewesen sein.

Die hier stationierte Einheit war nicht zum Kämpfen, sondern zum Zeichnen vorgesehen. Willi Sittes Aufgabe war es, topografische Karten anzufertigen. Der junge Maler – er hatte bereits an der Kunstschule des Gewerbemuseums Reichenberg studiert und war wegen Aufmüpfigkeit aus der »Hermann-Göring-Meisterschule für Malerei« herausgeworfen und an die Front abkommandiert worden – hatte nach Auskunft der Tochter des Partisanenchefs seine Malutensilien und Kunstbücher mitgenommen. In seinem Dienstzimmer im Rathaus der Stadt hatte er begonnen, Kohle- und Kreidezeichnungen an die Wände aufzutragen.

»Treue« steht als Titel unter einem, das einen als Soldaten erkennbaren Mann zeigt, der in sich versunken einen Brief oder ein Foto betrachtet. »Verzicht«, gleich daneben, stellt eine junge Frau dar, die aus einem der in der Gegend verbreiteten Renaissancegemälde entsprungen scheint. Sie sitzt auf steinernen Stufen, hält einen Stecken in der Hand und bedeckt die Schulter, die sie aus niedergeschlagenen Augen betrachtet, mit einem Tuch. Auf die angrenzende Wand hat Sitte ein junges Paar gezeichnet, das sich umschlungen hält. Ein Baum im Hintergrund vervollkommnet die aus Zeit, Ort und Geschichte herausgerissene Idylle.

Die Wandzeichnungen sind noch heute erhalten. Sie sind hinter Glas in einem Büro, das Baugenehmigungen ausstellt. Die Wandbilder sollten 2004 bei einer Renovierung des Rathauses übermalt werden. Recherchen führten schließlich zur Identifizierung der Arbeiten als frühe Werke Sittes. Der Künstler selbst hatte deren Existenz vergessen, sie aber vor zwei Jahren nach Abbildungen wiedererkannt.

Kunst des Porträts – Kunst des Lebens

Sitte hat noch andere Werke in Montecchio Maggiore hinterlassen. Bezaubernd ist ein Tagebuch, das er der siebenjährigen Tochter des nach der Befreiung eingesetzten Bürgermeisters schenkte. Darin ist eine Zeichnung des Mädchens, dessen Züge so gut getroffen sind, dass sie dem Modell auch nach 63 Jahren noch aus dem Gesicht geschnitten scheinen. Dieser Überzeugung jedenfalls sind Lucia Muraro und Luciano Chilèse.

Der Kulturstadtrat hat dieser Tage viel zu tun. Denn Sitte, der berühmteste Künstler des Ortes, wird am 15. November mit einer Ausstellung seiner in Italien gefertigten, aber auch einiger früher in Deutschland entstandener Werke geehrt. Zudem wird ihm in einem Festakt in Anwesenheit des Botschafters der Bundesrepublik Deutschland in Italien die Ehrenbürgerschaft von Montecchio Maggiore verliehen. Bereits am 30. September hatte die Gemeinde diesen Entschluss gefasst.

Der in Deutschland vor allem als Prototyp der Verbindung von künstlerischem Talent und politischem Einfluss geschmähte Künstler erfährt in Italien nun eine späte Ehrung, die auch deshalb bemerkenswert ist, weil sie auf Ereignisse verweist, die des Malers politische Haltung und seinen Charakter als nicht-opportunistischen Menschen kennzeichnen. Sitte hat in Montecchio Maggiore durchaus etwas riskiert. Der für Kultur und Bildung zuständige Stadtrat Chilèse zeigt auf die damalige Mittelschule. »Hier war das Gros der deutschen Soldaten untergebracht. Aus der dortigen Waffenkammer haben die Partisanen immer wieder Waffen bekommen. Besorgt hat sie ihnen Willi Sitte.« Montecchio Maggiore ist ein Ort, an dem ein junger Mensch zum Maler und zum Mann gereift ist.

Willi-Sitte-Galerie, Domstraße 15, Merseburg. Öffnungszeiten im Winterhalbjahr: Di-So 10-16 Uhr.
Ausstellung (bis 31. Januar 2009): Matthias Rataiczyk, Zeichnungen, und Willi Sitte, Handzeichnungen.
Nächste Autogrammstunde Willi Sittes am 23. 11., ab 14.30 Uhr im Galerie-Café.

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