Kühles Blut im Gehirn

Wie die Evolution den Menschen formte

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.

Kaum eine andere Wissenschaft macht so rasche Fortschritte wie die Paläoanthropologie. Vieles, was hier vor einigen Jahren noch als gesicherte Lehrmeinung galt, wurde inzwischen revidiert. Um so erfreulicher ist es, dass der US-Wissenschaftsjournalist Chip Walter den aktuellen Erkenntnisstand auf diesem Gebiet jetzt in einem Buch zusammengefasst hat, das sich ähnlich spannend liest wie ein Krimi. Und das mit dem Vorurteil aufräumt, der Mensch verfüge über ein perfektes biologisches Design.

Gleichwohl sei Homo sapiens ein ganz besonderes Tier, betont der Autor und nennt sechs Merkmale und Fähigkeiten, die dies bezeugten: die große Zehe, der Daumen, der Kehlkopf, das Lachen, das Weinen und das Küssen. Hätten sich zum Beispiel unsere Großzehen vor mehr als fünf Millionen Jahren nicht allmählich gestreckt und gekräftigt – unsere Vorfahren wären niemals aufrecht gegangen und in den Besitz freier Hände gelangt. Ein höchst beweglicher Daumen befähigte sie außerdem, Dinge in einer Weise festzuhalten und zu manipulieren, wie dies anderen Primaten unmöglich ist. Bevor unsere Ahnen aber dadurch zu Erfindern und Künstlern werden konnten, musste ihr Gehirn wachsen. Hier nun gab es eine Schwierigkeit: Afrika ist heiß, und ein durch das Grasland hetzender Jäger mit großem Gehirn wäre sicherlich einem Hitzschlag zum Opfer gefallen. Die Evolution musste also einen Ausweg aus diesem Dilemma finden – und fand ihn vor ca. zwei Millionen Jahren. Immer dann, wenn Menschen Überhitzung droht, pumpt ihr Herz kühleres Blut aus dem Körper in ein feines Netz aus Blutgefäßen, das unter der Kopfhaut verzweigt ist und dort zunächst überschüssige Wärme abführt. Anschließend leiten die Gefäße »luftgekühltes« Blut ins Gehirn, um das dort befindliche warme Blut zu ersetzen. Genial, nicht wahr? Zumal ohne dieses Kühlsystem das Gehirn auf der Stufe des Homo habilis wohl aufgehört hätte zu wachsen.

Mit viel Liebe zum Detail beschreibt Walter auch die Genese anderer evolutionärer Neuerungen, die in der Tat bisweilen so anmuten, als seien sie von einem intelligenten Schöpfer erdacht worden. Bei näherem Hinsehen jedoch erkennt man, dass es kaum einen evolutionären Vorteil gibt, der nicht auch mit Problemen behaftet wäre. So sorgt, wie jeder weiß, der aufrechte Gang häufig für Rückenschmerzen. Aber nicht nur das. Beim Zweibeiner Mensch hat sich der weibliche Geburtskanal so stark verengt, dass ein Kind den gefährlichsten und schwierigsten Gebärvorgang in der gesamten Natur bewältigen muss, bevor es das Licht der Welt erblickt. Zudem ist das Neugeborene völlig hilflos. Und sein kleines und unterentwickeltes Gehirn reift zu großen Teilen erst außerhalb des Mutterleibs. Doch gerade diese Offenheit gegenüber der Umwelt machte unsere Vorfahren zu lernenden, statt zu rein instinktgetriebenen Wesen.

Eine besondere Hilfe leistete ihnen hierbei die Sprache. Aber wie ist diese entstanden? Darüber gibt es verschiedene Theorien, von denen eine auf den britischen Anthropologen Robin Dunbar zurückgeht. Menschen haben danach die Sprache nicht erfunden, um sich über technische oder philosophische Erfahrungen auszutauschen, sondern weil sie einfach schwätzen und dabei ergründen wollten, was in ihrer Gruppe gerade vorging. Und wer sich ihnen gegenüber freundlich oder feindlich verhielt. Denn davon hing letztlich ihr Überleben ab. Es steht ohnehin zu vermuten, dass es häufig »banale« Anlässe waren, aus denen imposante menschliche Fertigkeiten und Talente entsprungen sind. Leider fehlt hier der Platz, um dies weiter auszuführen. Wer jedoch neugierig geworden ist und mehr über die faszinierende Evolution des Menschen erfahren möchte, dem kann Walters Buch nur wärmstens empfohlen werden.

Chip Walter: Hand & Fuß. Wie die Evolution uns zu Menschen machte. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008, 336 S., 24,90 ¤.

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