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»Freie Läden« für die Schieber?

Vor 60 Jahren: Die ersten HO-Geschäfte werden in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands eröffnet

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 6 Min.
»Freie Läden« für die Schieber?

Eigentlich sollte es ein feierlicher Augenblick werden – aber dazu kam es dann nicht. Für den 15. November 1948, 11 Uhr, war die Eröffnung des ersten »Freien Ladens« im sowjetischen Sektor von Berlin vorgesehen. Aber schon bevor es so weit war, hatte sich vor dem Kaufhaus in der Frankfurter Allee eine große Menschenmenge eingefunden. Das Gedrängel, schimpften einige Neugierige, sei schlimmer als auf dem Schwarzmarkt. Der Leiter der ersten HO-Verkaufsstelle hatte vorsorglich ein verstärktes Polizeiaufgebot angefordert. Mit einiger Verspätung wurde dann das Schutzgitter zum Eingang hochgeschoben. Die vorderste Reihe der Wartenden quetschte sich durch die Schwingtür. »Dann war der erste Schub glücklich drin«, berichtete ein Reporter, »und die Wachtmeister rückten die Tschakos gerade und ließen die Eisenjalousien wieder herunter … In dem strahlend erleuchteten Innenraum standen die Ankömmlinge einen Augenblick erstaunt still. Wo sollte man sich zuerst hinwenden?«

125 DM für »Igelit«-Schuhe!

Das Erstaunen war verständlich. Im Angebot der HO-Kaufhäuser befand sich eine breitea Angebot von Waren von Nahrungs- und Genussmittel über Kosmetik und Haushaltsgegenstände bis zu Bekleidung und Einrichtungsgegenständen. Das alles war ohne Abgabe von Marken und Bezugsscheinen verfügbar, erstmals seit den vielen Jahren der »Bewirtschaftung«. Am Abend jenes Tages im November, als insgesamt 29 Freie Läden in der Sowjetischen Besatzungszone eröffnet worden waren, frohlockte einer der Verantwortlichen der bei der Hauptverwaltung für Handel und Versorgung der Deutschen Wirtschaftskommission angesiedelten »Arbeitsgruppe HO« angesichts des überall zu verzeichnenden Andranges auf die neuen Geschäfte und Restaurants: »Jedenfalls sind alle die Pessimisten, die sich gegen die Freien Läden ausgesprochen haben, glänzend widerlegt worden. Die ›HO‹ ist bereits populär.«

Beim Einkauf in der HO begrenzte nur der Geldbeutel die Anzahl bzw. die Menge der Güter, die man erwerben konnte. Dieser Grenze wurde sich der neugierige Käufer rasch bewusst, denn die Preise in den Freien Läden waren gepfeffert: 12 DM für ein Zweipfundweißbrot, 16 DM für ein Kilogramm Nudeln, 75 DM für einen Satz Herrenunterwäsche, und 125 DM für »Igelit«-Schuhe. Der durchschnittliche Bruttowochendienst eines Industriearbeiters lag damals bei 47,47 DM. »Es darf wohl noch gefragt werden, für wen eigentlich wurden diese Läden eingerichtet? Wer von den Arbeitern verdient Beträge, die es ihm gestatten, für 20 Mark Kuchen zu kaufen?« streute der Westberliner »Telegraf« vom 22. November 1948 in einem Artikel über die Freien Läden Salz in die Wunden.

Unbestritten war: Die HO blieb den Geringverdienern erst einmal verschlossen. Die Mehrzahl der Arbeiter und kleinen Angestellten war weiterhin auf das quantitativ und qualitativ limitierte Angebot angewiesen, dass es auf Lebensmittel- bzw. Punktkarten gab – allerdings für einen Bruchteil des HO-Preises. »Die Arbeiter und Angestellten müssen aufpassen, dass die Schwarzmarkthändler und Spekulanten nicht die einzigen Kunden der HO bleiben«, hieß es. Die HO-Besucher, die diese Meinung äußerten, hatten wohl auch einen Blick auf die Preise einiger der »Luxusgüter« geworfen, die die Freien Läden anboten: Aktentaschen für 300 DM, Herrenarmbanduhren für 400 DM, modische Damenschuhe für 420 DM, Kameras für 1500 DM und Pelzmäntel erster Güte für 15 000 DM. Angesichts der hohen Preise wurde die HO von ihren Kritikern auch schon mal als »staatlich erlaubter Schwarzhandel« bezeichnet.

Anlässlich der Eröffnung weiterer Freier Läden und HO-Restaurants in Ostberlin, hieß es im »Neuen Deutschland«, dass die Stimmung »kariert« sei. Über Befürworter und Gegner der HO gibt eine Umfrage Auskunft, die von der Abteilung Werbung, Presse, Rundfunk der SED am 1. Dezember 1948 unternommen wurde. Sie ergab, dass nicht viel mehr als ein Viertel (28 Prozent) der befragten Arbeiter die HO begrüßten, aber mehr als die Hälfte (53 Prozent) dagegen waren. Von den Angestellten sprachen sich dagegen 55 Prozent für und 34 Prozent gegen die HO aus. Bemerkenswerte 78 Prozent der Handwerker fanden »Freie Läden« gut. Die Befragung der Rentner wies die größte Ablehnungsquote auf (80 Prozent gegen, 20 Prozent für). Insgesamt trat damals eine knappe Mehrheit (51 Prozent) für HO-Läden ein, während 38 Prozent gegen sie votierten.

Um die Frage des unkontrollierten Zugangs für alle war in der »Arbeitsgruppe HO« vor der Eröffnung der Läden gestritten worden und man hatte sich prinzipiell gegen Personenkontrollen entschieden. Bedauerlicherweise könne »die Teilnahe asozialer Elemente am Einkauf nicht verhindert werden«, hieß es.

Die hohen HO-Preise erläuterte der Verantwortliche für die Freien Läden, Diplom-Volkswirt Erich Freund, den ND-Lesern in einer Lektion über Ökonomie: »Es ist natürlich nicht zu übersehen, dass die Preishöhe beeinflusst wird von der Warenmenge.« Die Warendecke sei im Augenblick noch ein Problem. Der hohe Preis habe schon die Funktion, die Nachfrage zu drosseln. »Wenn z. B. Kartoffelmehl das Kilo mit 12 DM angesetzt ist, oder der Zucker mit 33 DM, dann wird nicht ein kilo- oder pfundweise Einkauf erfolgen.« Auf keinen Fall könnte man sich Freie Läden leisten, denen das Sortiment ausgehe. Es sei deshalb »einfach nicht vertretbar, wesentlich unter dem Angebot des Schwarzen Marktes zu bleiben.« Keine Vertröstung, sondern ökonomisch wohl begründet war Freunds Blick von der noch nicht so freundlichen Gegenwart in die Zukunft: Je mehr produziert werden könne, desto eher würden die HO-Preise sinken. Man wusste »oben« also durchaus, wie heikel die Preisfrage war und war bestrebt, Abhilfe zu schaffen.

1948 war ein gutes Erntejahr. Im Zweijahrplan erhöhte sich auf der Grundlage deutlich gestiegener Hektarerträge von Getreide und Kartoffeln die landwirtschaftliche Produktion weiter – 1949 um 10 Prozent und 1950 um 20. Dadurch konnte auch die Erzeugung von Fleisch- und Fleischwaren und Fetten, von Trinkmilch und Eiern und von Weißzucker gesteigert werden. Schritt für Schritt wurden so die Voraussetzungen für die Realisierung der angekündigten Preissenkungen geschaffen. Diese folgten in den Jahren 1949 und 1950 tatsächlich rasch aufeinander. Insgesamt handelte es sich um zwölf. Ein Jahr nach Gründung der Freien Läden lagen die HO-Preise etwa 60 Prozent unter dem Niveau des Eröffnungstages. Bis zum März 1950 war das Preisniveau gegenüber dem Erstangebot bei wichtigen Nahrungsgütern um 80 bis 90 Prozent gesunken, bei Industriewaren um 35 Prozent. Sinkende HO-Preise erweiterten zusammen mit dem 1948 eingeführten Leistungslohn die Möglichkeit des Einkaufes für die Arbeiter jenseits von Lebensmittelkarten, Punktkarten und sonstigen Bezugsscheinen.

Schwarzmarkt erfolgreich verdrängt

Die HO verdrängte allmählich auch den Schwarzen Markt. In den 50er Jahren folgten weitere Preissenkungen, in Häufigkeit und Umfang weitgehend von der Entwicklung der Produktion abhängig. Das Pfund Butter, das 1950 noch 18 DM gekostet hatte, war 1958 für 10 DM zu haben. Im Juni 1958 konnten dann endlich die Lebensmittelkarten abgeschafft werden.

Die HO-Läden blieben, verloren aber ihre Funktion als Gewährleister einer hochpreislichen Zusatzversorgung. Das doppelte Preisniveau – niedrige Preise für bewirtschaftete Güter und hohe im freien Verkauf – fand erst einmal sein Ende. Der nun einheitliche Preis für das Pfund Butter lag bei 5 DM.

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