Gebirge wie Flutwellen

München: Absolut.Abstrakt – eine grandiose Kandinsky-Schau

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Ende wurden die Leinwände knapp. Doch Wassily Kandinsky ließ sich von den materiellen Beschränkungen, die der Zweite Weltkrieg und das französische Exil mit sich brachten, nicht unterkriegen und nahm Kartons. Bis kurz vor seinem Tod 1944 hat der Pionier der Abstraktion weiter gearbeitet. Einige Bilder aus seinen letzten Lebensjahren gehören zum schönsten, was er je gemalt hat. Nachdem alle Schlachten um die Bedeutung des Ungegenständlichen und seine spirituelle Dimension geschlagen waren, schien der theoretische Vordenker der Moderne frei für dekorative Flächenspiele. Wie etwa in den »Zarten Spannungen« von 1942. Leicht gekrümmte Viereckformen bilden den Rahmen für kleine Musterungen aus bunten Wellen, Rechteckwinzlingen und anderen Elementarchiffren. Ein zart-gelber Fond scheint die heitere Stimmung jener Nachkriegsmoderne vorwegzunehmen, die der Künstler selber nicht mehr erlebt, aber bis heute geprägt hat.

In seltener Vollständigkeit führt jetzt eine Münchener Ausstellung Früh- und Spätwerk des gebürtigen Russen zusammen. Die Städtische Galerie im Lenbachhaus hat ihren eigenen Kandinsky-Fundus um hochkarätige Leihgaben aus renommierten Sammlungen im In- und Ausland bereichert. Mit 95 oft wandfüllenden Gemälden gelingt ein satter Querschnitt durch alle Schaffensphasen des Künstlers von den Münchener Anfängen über die Bauhaus-Zeit bis zum Finale in Paris. Während das Herzstück der Präsentation den benachbarten Kunstbau einnimmt, wird im Lenbachhaus selbst erstmals seit 1966 das gesamte druckgrafische Oeuvre Kandinskys aus den Archivschränken geholt.

Auf die Beine gestellt wurde die Retrospektive gemeinsam mit dem Pariser Centre Pompidou sowie der New Yorker Guggenheim Foundation. Weil man die Hauptwerke des Künstlers aus der Phase nach 1914 nur selten in deutschen Museen antrifft, sind es besonders die Leihgaben der beiden Kooperationspartner, die diese Kandinsky-Parade so lohnenswert machen. Da verzeiht man dann auch die etwas schroffen Betonkulissen im unterirdischen Raumschlauch des Münchner Kunstbaus.

Vor dem »Reitenden Paar« von 1907, das am Anfang des Rundgangs steht, fühlt sich der Betrachter, als säße er irgendwo in der Datscha, um bei flackerndem Kamin und dampfendem Samowar einer winterlichen Märchenstunde zu lauschen. Unübersehbar ist der Einfluss russischer Volkskunst, formal aber stellt die schimmernde Buntglaspalette bereits eine Einübung ins Abstrakte dar. Die festgefügten Koordinaten von Landschaft und Figur löste Kandinsky in der Folgezeit schrittweise ins Immaterielle auf. Die Berge und Bäume des bayrischen Dorfes Murnau sieht er als leuchtende Farbmassive, während sich der Regen zu schwarzen Strichen stilisiert, die wie Fensterstäbe vor der Nichtmehrnatur stehen.

Das Herannahen des Ersten Weltkriegs spürend, steigerte der Künstler seine kontrastreich verwebten Farbteppiche zum Weltenbrand. Die Gebirge türmen sich auf wie Flutwellen, Kirchen stürzen zur Seite weg und in Gestalt zweier Kanonenrohre fährt die Realität donnergrollend ihre Geschütze auf.

Die metaphysisch grundierte Ästhetik vom freien Klangspiel der Farben und Formen hat der Mitbegründer des »Blauen Reiters« später auch in die formstrenge Epoche des Bauhauses hinübergerettet. Das belegen nicht nur jene glasigbunten Kreise, die als magische Seifenblasen durch die monochrome Nacht gleiten.

In Paris schließlich, wohin auszuwandern ihn die Nazis gezwungen hatten, brach Kandinsky zu einem entspannten Crossover aus freier und geometrischer Abstraktion auf. Quellen aus Folklore oder Religion sind hier kaum noch zu benennen. Gleichwohl horcht der Maler weiterhin auf die Dimension der kosmischen Klänge. In dem grandiosen »Mouvement I« schickt er durch das Weltraumdunkel komplexe Geometrien, weiße Flatterbänder und strahlende Lichtpunkte zu uns. Der deutsch-russisch-französische Weltkünstler Wassily Kandinsky war ein Avantgardist, der aus der Kälte kam. In München sorgt er jetzt dafür, dass einem warm ums Herz wird.

Bis 22. Februar. Di-So 10-22 Uhr. 24.12. geschl. 31.12. 10-16 Uhr. Katalog.

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