Schluss mit dem Kaffeetrinken

Schwellenländer fordern verbindlich einen angemessenen Einfluss

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 4 Min.
Seit Anfang Oktober kennt die Finanzkrise keine Grenzen mehr. Was im Sommer 2007 als Immobilienkrise in den USA begann und sich seit Mitte 2008 zu einer Bankenkrise in den Industrieländern ausweitete, hat inzwischen längst unverschuldet die Schwellenländer erfasst. Nun fordern sie eine neue globale Finanzarchitektur und mehr Einfluss.

Der Optimismus von Brasiliens Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva hatte eine kurze Halbwertszeit: »Was für eine Krise? Fragen Sie doch den Bush«, bekundete Lula noch Mitte September auf Fragen nach den Folgen der Finanzkrise für die südamerikanische Regionalmacht. »Dort ist das ein Tsunami. Hier wird das, wenn es überhaupt ankommt, eine schwache Welle sein.«

Längst zeigen die auch jenseits der Zentren abstürzenden Börsen, dass sich Lula getäuscht hat. In den sogenannten Emerging Markets wie China, Indien, Russland und Brasilien brachen die Börsenwerte seit Jahresbeginn um rund 70 Prozent ein – ein Verfall, der über den Kurssturz an der Wall Street, London, Frankfurt oder Tokio hinausgeht. Und das obwohl die Banken der Schwellenländer so gut wie nicht am Handel mit Schrottpapieren beteiligt sind und viele von ihnen Fundamentaldaten aufweisen, die alles andere als eine Krise indizieren. Wie zum Beispiel Brasilien und China, die seit Jahren Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse erzielen und Devisenreserven auf Rekordhöhe angesammelt haben: Brasilien über 200 Milliarden Dollar, China gar über 1,8 Billionen Dollar.

Die Weltrezession trifft die Schwellenländer auf allen Ebenen: fallende Rohstoffpreise und fallende Rohstoffnachfrage, fallende Börsenkurse und verfallende Währungen sowie schwieriger werdende Refinanzierungsbedingungen auf den internationalen Kapitalmärkten treffen sie in der einen oder anderen Art alle und drohen, die beachtlichen Wachstums- und Stabilisierungserfolge der letzten Jahre zunichte zu machen.

Davor warnte auch UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon, der am Weltfinanzgipfel teilnehmen wird. In einem Brief an die Vertreter der G20 Staaten, hat er gefordert, »alle Kräfte zu bündeln und sofort zu handeln, damit die Finanzkrise nicht zu einer humanitären Tragödie wird. Wenn Hunderte von Millionen Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren und ihre Hoffnung auf ein gutes Leben durch die Krise, für die sie nicht das Geringste können, zerstört wird, dann wird sich diese menschliche Krise nicht nur auf den wirtschaftlichen Bereich beschränken«, warnte er.

So sieht das auch Brasiliens Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva. Zur Überwindung der weltweiten Finanzkrise sei eine weitgreifende Reform des internationalen Finanzsystems nötig. Man brauche neue Mechanismen zur Stärkung und zur Regulierung der Märkte, aber auch mehr Transparenz. Lula spricht sich zudem für einen schnellen Abschluss der stagnierenden Doha-Runde zur Liberalisierung des Welthandels sowie für »mehr Integration, mehr Handel, weniger Verzerrungen und weniger Protektionismus« aus. Sein Finanzminister Guido Mantega pflichtet ihm bei: Bisher würden die Schwellenländer von den Mächtigen nur »zum Kaffeetrinken« eingeladen, klagte er auf dem G20-Vorbereitungsgipfel in São Paulo. Das muss sich in New York ändern, so der kleinste gemeinsame Nenner der Schwellenländer.

»Die Reformen können sich nicht darauf beschränken, den Finanzsektor zu regulieren«, meint derweil Ban Ki-moon. »Es müssen auch die größeren Herausforderungen der menschlichen Sicherheit angegangen werden. Dazu zählen der Klimawandel, die Verhütung von Konflikten und die Armutsbekämpfung.« In der Theorie werden dem die G20-Staaten sicher zustimmen. In der Praxis geht es aber primär darum, die Verwertungsbedingungen für das Kapital wiederherzustellen. Alles andere ist Nebensache – auch in New York.


Zahlen und Fakten

Seit Beginn der Finanzkrise gibt es einen Reigen von Gipfeltreffen – sei es der europäischen Gruppe der Vier (G4) oder wie nun am 15. November in Washington der globalen Gruppe der 20 (G20).

Seit Mitte der siebziger Jahre trafen sich bei den jährlichen G7-Gipfeln die größten Industriestaaten. Neben den G4 (Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien) waren das die USA, Kanada, und Japan. 1998 wude die G7 um Russland zur G8 erweitert. Von der reinen Wirtschaftsleistung her müsste längst auch China zu dieser Gruppe gehören.

China gehört zur G20. Dazu kommen die EU und 18 Staaten: Argentinien, Australien, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei und die USA. Die G20 wurde Ende der 1990er Jahre als Reaktion auf die Finanzkrisen in Asien, Brasilien und Russland gegründet. ND

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