In Würde altern

Neue CD von Grace Jones: »Hurricane«

  • Carloff Wiltner
  • Lesedauer: 2 Min.

Vor etlichen Jahren machte ein Gerücht die Runde, nach dem Grace Jones durch Auftritte in französischen Provinzdiskotheken als bizarres Abbild ihrer selbst ihren Lebensunterhalt bestreiten würde. Das stimmte mich traurig, denn das hatte diese einstige Grande Dame der Popmusik nicht verdient. Eine Frau, die durch ihre bloße Präsenz die Grundpfeiler der Popkultur (Studio 54, Vogue, James Bond) stützen konnte; eine Künstlerin, die die sexuelle Selbstbestimmung der Frau ganz selbstverständlich aus dem Ärmel schüttelte, lange bevor Madonna oder Missy Elliott auch nur einen Pieps gesungen hatten; eine musikalische Visionärin, die Reggae als Alternative zu Disco auf den Tanzflächen verankern konnte; kurz: eine Frau, die Alben wie »Warm Leatherette« und »Nightclubbing« aufgenommen hatte, darf es nicht nötig haben müssen, als Zirkusnummer in Großraumdiscos aufzutreten.

Doch nun kommt die gute Nachricht: Grace Jones hat nach neunzehn Jahren ein neues Album aufgenommen, und es ist großartig. Mit »Hurricane« bleibt sich Miss Jones treu, ohne Abstriche an die Reife ihres Alters machen zu müssen. Die CD ist heiß und treibend (»This Is«), und sie festigt Jones' Ruf als männerfressende Sirene (»Corporate Cannibal«). Doch nimmt sich Grace Jones auch die Freiheit, Geschichten aus ihrem reichen Erfahrungsschatz aufzugreifen. »William's Blood« etwa, in dem die Geschichte einer Frau erzählt wird, die am Lebenskonzept der Keuschheit scheitert. Anderswo schlägt Jones sehr persönliche Töne an, etwa in »I'm Crying (Mothers Tears)«, wo sie über ihr Verhältnis zu ihrer häuslich unterdrückten Mutter singt und über die Verantwortung ihr gegenüber, das Leben zu leben, das jener nicht möglich gewesen ist.

»Hurricane« ist musikalisch abwechslungsreich. Hier finden sich Tanznummern neben fein arrangierten Chansons und rhythmische Großtaten neben orchestralen Aufbrüchen. Trotzdem klingt die CD beim Durchhören wie aus einem Guss: »Hurricane« ist ein durchkonzipiertes Album, das in jedem Takt Jones' Handschrift trägt.

Diese Platte erscheint aber auch noch auf einer ganz anderen Ebene als Meilenstein. Grace Jones sollte als Musterbeispiel dienen, wie man in Würde altert, ohne sich den hysterischen Mechanismen des Marktes zu unterwerfen. Grace Jones diktiert, wo der Weg lang geht. Sie zieht ihren Stil durch und bleibt sich dabei treu. Das ist Pop in seiner reinsten Form: Der Künstler macht, und der Rest zieht mit. Nachdem ich mich aus meiner tiefen Verbeugung wieder aufgerichtet habe, fange ich an, mich für Grace Jones zu freuen.

Grace Jones: Hurricane (Wall of Sound/PIAS)

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