• Politik
  • Auflösung des hessischen Landtages

Gewissensnöte?

Der Wähler bleibt der Souverän

  • Harry Nick
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn in der politischen Debatte Argumentationsnöte auftreten, ist immer wieder von Gewissen die Rede, dem allein man zu gehorchen habe. Und das soll heißen: Rede hier niemand demjenigen herein, der sich auf sein Gewissen beruft, sondern respektiere die Gewissensentscheidung und widerspreche nicht. Eine höhere Weihe könne eine persönliche Entscheidung gar nicht erlangen als das Urteil des eigenen Gewissens. Der Verweis auf das Gewissen wird in der Tat wie ein unwiderlegbares Argument gehandhabt, wie ein Urteil letzter Instanz.

Wer den vier abtrünnigen hessischen SPD-Landtagsabgeordneten widerspricht, die, wie sie sagen, die Wahl ihrer Parteivorsitzenden zur Ministerpräsidentin auch mit den Stimmen der Linkspartei aus Gewissensgründen nicht akzeptieren wollen, und wer von ihnen gar die Niederlegung des Mandats fordert, wird von Politikern auch aus der eigenen Partei sowie von den Medien unisono bezichtigt, eine Gewissensentscheidung nicht zu respektieren.

Erstaunlich, wie oft solches Totschlagargument akzeptiert wird, obgleich es offenkundig falsch ist. Natürlich ist jeder Mensch frei in seinem Willen in dem Sinne, dass er tun und lassen kann, was er will. Aber dem ist eine andere Frage vorgeschaltet: Darf er einfach wollen, was er will? Es möge jemand wollen, und darüber auch mit seinem Gewissen übereins sein, in eine Bank einzubrechen. In heutigen Zeiten mag solcher Wunsch geringeren Konflikt mit dem Gewissen haben als in früheren Zeiten. Aber dennoch: Er darf es nicht, das Gesetz verbietet es ihm. Der Wille, das Gewissen sind keineswegs ungebunden.

Im Falle eines Abgeordneten tritt an die Stelle des Gesetzgebers der Wille des Wählers. »Der Wille kann nicht vertreten werden.« Dieser Satz Immanuel Kants, den er offenkundig für so wichtig hielt wie den Satz »Der Gewählte ist nur seinem Gewissen unterworfen, an Weisungen nicht gebunden«, scheint vergessen zu sein. Es ist aber nicht zu vergessen, dass die repräsentative Demokratie, die Volksvertretung, das Abgeordnetenmandat ihre Legitimation allein durch einen praktisch-technischen Umstand gewinnen: Der Souverän, das Volk, der Wähler können sich nicht versammeln, um die Dinge zu entscheiden; es sind einfach zu viele. Die Vertretung hat keinen ontologisch-demokratischen Grund. Der Abgeordnete kann den Souverän quasi nur körperlich, Gehirn eingeschlossen, vertreten. Der Wähler bleibt der Souverän. Der Abgeordnete hat keineswegs das Recht, den eigenen Willen an die Stelle des Wählerwillens zu setzen, den Willen von Fraktionschefs und Lobbyisten schon gar nicht. Was also unterliegt der Gewissensprüfung durch einen Abgeordneten? Zu eruieren, was der Wille des Wählers in einem bestimmten Falle ist. Abgeordnete sollen diejenigen sein, die das nach Kompetenz und Charakter am besten vermögen. Das ist deswegen wichtig und keineswegs einfach, weil der Wille des Wählers nicht wie Gesetzesvorschriften kodiert ist. Der Raum für Interpretation ist für Abgeordnete viel weiter als für Richter.

Was aber, wenn der Abgeordnete nach gründlicher Gewissensprüfung zu dem Ergebnis kommt, dass der erkennbare Wille seiner Wähler zu falscher Entscheidung führt? Was immer auch heißen muss, dass dieser Wille nach seiner Meinung gegen die wohlverstandenen Interessen der Wähler gerichtet ist? Es kann mehrere Auswege aus solchem Dilemma geben: Der Abgeordnete versucht seine Wähler von seiner Meinung zu überzeugen; in einem minder schweren Fall hofft er, sofern ihm das nicht gelingt, dass sie es ihm diesmal durchgehen lassen. In einer wichtigen Sache muss er, wenn seine Gewissensentscheidung im erkennbaren Gegensatz zum Wählerwillen steht, sein Mandat zurückgeben. Einen anderen Weg gibt es nicht.

Im Falle der vier abtrünnigen hessischen SPD-Landtagsabgeordneten ist dies ein klarer Fall. Sie haben sich nur mit sich selber, mit ihrem Gewissen befasst. Sie haben sich in der Tat so verhalten, als ob sie nach ihrem eigenen Willen entscheiden dürften, auch wenn dies nicht der Wille ihrer Wähler ist. Sie halten nicht ihre Wähler, sondern sich selber für den Souverän. Die Möglichkeiten, sich mit den Wählern, mit den Delegierten der SPD-Landesparteitage und anderen demokratischen Gremien zu beraten, haben sie ausgeschlagen.

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