nd-aktuell.de / 20.11.2008 / Kultur / Seite 12

Scheinwelten

Thomas von Steinaecker: »Geister«

Irmtraud Gutschke

Eigentlich gewinnt man ja durch Lesen eine schärfere Wahrnehmung von Wirklichkeit. Aber hier ist alles wie verschwommen. Als ob man den ganzen Tag ferngesehen hätte, eine Serie nach der anderen (bloß nicht!) und nun nicht richtig wach werden kann. Der Roman beginnt auch mit einem Film: Jürgen sieht seiner Geburt zu und wie ihn die Eltern als kleines Bündel nach Hause bringen. Für den Bruchteil einer Sekunde gerät Ulrike ins Bild, mit ihrem Teddy in der rechten Hand. Aber nein, die Kamera hatte lediglich das Foto eingeblendet. Als Jürgen geboren wurde, war Ulrike bereits … Tot? Das ist wahrscheinlich, obwohl ihre Leiche nie gefunden wurde. Eines Tages war die Sechsjährige nicht von der Schule zurückgekehrt, alles Suchen hatte zu keinem Ergebnis geführt. Und vielleicht hatten sich die Eltern in der geheimen Hoffnung zu diesem Film einverstanden erklärt, eines Tages doch noch eine Spur ihrer Tochter zu finden.

Dabei will der Regisseur bloß etwas liefern, was das Publikum reizt. Aus keinem anderen Grund eignet er sich die Tragödie an. Als ein vermeintlicher Kindermörder vor Gericht steht, rollt er das Thema wieder auf, befragt den halbwüchsigen Jürgen, der sich bloß noch mehr in sich selbst verkriecht. Cool bleiben, die oberste Devise. Und auch der Autor, Thomas von Steinaecker, will sich keinesfalls ins Trauma der verlorenen Schwester vertiefen. Dass Jürgens ganzes Leben davon geprägt ist, können wir ihm glauben und ihm dankbar sein, dass er uns nicht nach Schema F vorführt, wie der Schmerz »zugelassen« und »verarbeitet« wird. Jürgen wird zerrissen bleiben zwischen dem Wunsch nach Gewissheit, dass Ulrike tot ist, und der Hoffnung, dass sie lebt. Seine Ehe wird in die Brüche gehen, er wird eine Comiczeichnerin kennenlernen und die Beziehung zu seiner Tochter aufs Spiel setzen …

Doch ist die verlorene Schwester wirklich schuld an der Unwirklichkeit seiner Wahrnehmung? Am Anfang mag er in seiner Einsamkeit tatsächlich in die Heavy Metal Musik geflohen sein, hat sich als Clown verkleidet, um sich bei den anderen Internatsschülern Geltung zu verschaffen. Aber das Maskiertsein hat ihm auch gefallen, das Spiel mit ausgedachten Situationen. Wie es ihn später dann hineintreibt in die Film- und Comicwelt, das schildert Thomas von Steinaecker so, dass man das Buch nicht aus der Hand legen will.

Gewiss kennt er Jean Baudrillards Theorie der Simulation, wonach die von den Medien vermittelten Bilder heutzutage mächtiger geworden sind als die Wirklichkeit selbst. Wie diese Scheinwelt die Realität dominieren kann, wir erleben es hier. Es gibt ja die vielfältigsten Möglichkeiten, auf Droge zu sein. Zuerst ist es angenehm, dann nicht mehr so sehr. Die Welt als Vorstellung, nur dass der Wille fehlt. Menschen wie »Geister«, die einander Albträume bereiten. Lediglich, indem er das durchschaut, steht der Autor darüber. »Eine eindringliche Geschichte über unsere Gegenwart«, heißt es im Klappentext. Das mag wahr sein.

Thomas von Steinaecker: Geister. Roman. Mit Comics von Daniela Kohl. Frankfurter Verlagsanstalt. 204 S., geb., 19,80 EUR.