nd-aktuell.de / 22.11.2008 / / Seite 24

Schiffsauge

Ronald Sprafke

Zunächst war es nur ein großer flacher Stein, geglättet durch das endlose Spiel der Meereswellen. Bei genauerer Betrachtung wurde schnell deutlich, dass dieser von Menschenhand geformt war: Eine kreisrunde Marmorscheibe mit einem Durchmesser von 20 Zentimetern und einem Loch in der Mitte, die eine Seite flach, die andere nach außen gewölbt. Die Ähnlichkeit mit einem antiken Diskus war auffallend. Ein Rettungsschwimmer hatte den Stein beim Tauchen im antiken Yavne-Yam gefunden.

In diesem Mittelmeerhafen einer antiken Stadt rund 20 Kilometer südlich von Tel Aviv sind bereits mehrere Teile von Schiffsausrüstungen (Anker, Steingewichte) oder Utensilien vom Fischfang (Bronzehaken, Netzsenker) gefunden worden, auch große Mengen an Vorratsgefäßen, Amphoren, Schüsseln und Töpfe aus der Bronzezeit, der griechischen, römischen und byzantinischen Epoche. Alle Funde bezeugen eine kontinuierliche Benutzung des Hafens vom 2. Jahrtausend. v. Chr. an bis in das Mittelalter.

Die runde Marmorscheibe übergab der Finder an die Israelische Altertümerbehörde (IAA). Die Experten fanden auf ihr, um das Mittelloch, die Reste aufgemalter Kreise. Dafür hatten sie eine überraschende Deutung parat. Mit einem Bronzenagel war die Scheibe einst am Bug eines antiken Schiffes aus dem 5./ 4. Jahrhundert v. Chr. befestigt – kein Sportgerät also, sondern ein »Schiffsauge« mit magischer Kraft. Von neuzeitlichen Segelschiffen kennen wir die Galionsfiguren. Sie sollten den Kurs des Schiffes im Auge behalten und es vor dem unberechenbaren Meer – auch Piraterie – beschützen. Antike Schiffe zeigten am Bug aufgemalte Augen (s. Foto/Archiv). Eventuell war dies eine Reminiszenz an archaische Vorstellungen vom Schiff als lebendigem Wesen, das sehen, den Weg weisen und vor Gefahren warnen konnte. Bei großen Handels- und Kriegsschiffen nagelte man steinerne Augen an die Bordwand. Antike Vasen- und Münzbilder geben über diese »Ophthalmoi« (griech.: Augen) genannten, weit verbreiteten Ornamente Auskunft. Doch archäologisch nachgewiesen wurden sie bisher sehr selten. In Booten mit aufgemalten Augen fahren übrigens auch heute noch Fischer auf das Mittelmeer hinaus, hoffend auf guten Fang und glückliche Heimkehr.