Freiheit gebracht, Uhren genommen

Vor 60 Jahren: Diskussionen um Rudolf Herrnstadts Artikel »Über ›die Russen‹ und über uns«

  • Kurt Pätzold
  • Lesedauer: 7 Min.
Herrnstadt, ab 1949 ND-Chefredakteur, Juli 1953 gestürzt
Herrnstadt, ab 1949 ND-Chefredakteur, Juli 1953 gestürzt

Am 18. November 1948 erschien im »Neuen Deutschland« aus der Feder des Chefredakteurs der »Berliner Zeitung« Rudolf Herrnstadt ein Artikel, der wegen seines Themas und mehr noch wegen der Art, in der es erörtert wurde, in der Geschichte dieser Zeitung einen denkwürdigen Platz besetzt. Der Text wurde in der Zeitung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) »Tägliche Rundschau« nachgedruckt. Und er erschien zudem separat in einer Broschüre und wurde zum Anstoß für viele öffentliche und private Diskussionen. Überliefert ist die Beteiligung u. a. des Intendanten Wolfgang Langhoff, des Juristenprofessor Peter Alfons Steiniger, des Philosophen Wolfgang Harich sowie Alexander Abusch und Albert Norden.

Schon der Begriff »die Russen« war ungewöhnlich. Das Wort gehörte zur Alltagssprache der Deutschen, doch Veröffentlichungen in der Presse und Vorträge in der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion versuchten gerade in der Ostzone, das deutsche Unwissen über das Riesenland auf dem eurasischen Kontinent durch Kenntnisse abzubauen. Mit »die Russen« war signalisiert, dass der Autor aufs allgemeine Bewusstsein (und nicht auf das der Minderheit von ND-Lesern allein) zielte.

Der Fall des Schwagers und der Schwägerin

Im Zentrum seines Aufsatzes stand der Antisowjetismus, dessen sich der Imperialismus bediene, so Herrnstadt, um sich vor dem sicheren Untergang zu retten. Seine Ausgangsfrage: Warum werden mit ihm weithin Erfolge erzielt? Die Antwort lautete: Weil selbst von Teilen der SED der Komplex Sowjetunion als »eine Belastung« empfunden werde, selbst Kommunisten sich nicht entschlossen und ohne jede Einschränkung der antisowjetischen Hetze entgegenstellen würden. Sie verteidigten, das war das Alpha und Omega von Herrnstadts Aufsatz, die Sowjetunion nicht ohne Einschränkungen.

Als eine Ursache dieses Verhaltens machte der Verfasser das Unverständnis für die in der Sowjetunion existierenden Überbleibsel der Vergangenheit aus, von denen er Tagediebe, Bürokraten, Karrieristen, Gauner und, als Folge des Krieges das Wiederauftauchen auch von Mördern nannte. Einen anderen Grund sah er in unverstandenen Erlebnissen und Erfahrungen, die aus der Zeit stammten, da die Sowjetarmee kämpfend den Boden Ostdeutschlands erreicht hatte und dessen nicht westwärts geflohene Bewohner »Bekanntschaft« mit den Siegern machten. Damit war ein Thema angeschlagen, das bis dahin unter einem Tabu stand und schon wenig später wieder in den Bereich des Zubeschweigenden verwiesen wurde.

Herrnstadt stellte den Lesern einen solchen unentschlossenen Genossen vor, der gleichsam an dem Erleben »seines Schwagers« gedanklich festklebte, dem im Frühjahr 1945 ein Rotarmist »eins über den Schädel geschlagen« und zudem das Fahrrad weggenommen hatte. Das war erkennbar der mildere Fall, man hätte auch mit der Geschichte einer »Schwägerin« beginnen können. Herrnstadts Argumentation war zweigleisig. Zum einen berief er sich auf die unbestreitbare Tatsache, dass jeder Krieg immer Menschen verrohe und dass dies in Teilen der Sowjetarmee ebenso geschehen sei. Zum anderen, und das war sein Hauptargument, hätten die deutschen Werktätigen diesen anfänglichen Umgang mit ihnen vor allem selbst verschuldet, denn wie anders wäre die Begegnung von Deutschen und »Russen« verlaufen, wären jene hier auf Deutsche getroffen, die den Leidensweg der Soldaten der Sowjetarmee durch eigenes Aufbegehren verkürzt hätten. Auch dann, räumte er ein, »wären einzelne Übergriffe geschehen«. Ein Satz Herrnstadts lautete: »Man soll nicht verniedlichen.« Das Thema »die Russen« gehörte im Herbst 1948 keineswegs schon der Vergangenheit an. Nicht nur, dass die Erinnerungen frisch waren.

Zum Alltag in der Besatzungszone gehörten die Demontagen von Industrie- und Verkehrsanlagen mit ihren Folgen und die fortdauernden Leistungen auf Reparationskonten aus der so genannten laufenden Produktion, die das Leben der Menschen zusätzlich erschwerten. Und mehr als alles andere lasteten auf vielen Familien die Ungewissheit über die Rückkehr von Vätern und Söhnen aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft. »Die Russen« – das waren die Sieger, die Besatzer, die Soldaten, die abgeschieden von den Deutschen sich in Kasernen und anderen militärischen Stützpunkten hinter endlos-öden grün gestrichenen Zäunen unsichtbar machten, Menschen aus einer fremden und unheimlichen Welt, Angehörige von Völkern, über deren Charakter, Lebensweise und Moral jahrelang und Tag für Tag Lügen und Zerrbilder verbreitet worden waren. Die Nazibilder von den kulturlosen »Asiaten«, den wilden »Mongolen«, die zwölf Jahre hindurch in die Köpfe der Deutschen gepresst worden war, unter diesen Bedingungen aus diesen Köpfen zu bringen, erforderte Berserkerkräfte und bedeutete eine Sysiphosarbeit. Zeitungsredaktionen, Verlage, Filmtheater, demokratische Organisationen hatten Anstrengungen nicht nur wider die Zerrbilder von der Sowjetunion, sondern auch gegen die über Wissenschaft und Kultur im Zarenreich unternommen. Dazu gehörte beispielsweise die Reihe »Deutsche sehen die Sowjet-union«, eine Entgegensetzung zu der von der Nazipropaganda herausgegeben Folge »Deutsche Soldaten sehen die Sowjetunion«. In ihr schilderten Schriftsteller (Anna Seghers, Eduard Claudius, Stephan Hermlin u. a.), die ersten, die nach dem Ende des Krieges die UdSSR besuchen konnten, Begegnungen mit Bürgern des Landes und Eindrücke von seinem Alltagsleben wie von seinen Festtagen.

Herrnstadts Artikel war indirekt auch ein Eingeständnis von der Begrenztheit des Erfolgs dieser Bemühungen. Natürlich ging der soviel Aufsehen erregende Aufsatz nicht nur auf den eigenen Entschluss seines Verfassers zurück. Aus ihm lässt sich der Eiseshauch des Kalten Krieges ablesen, am stärksten dort, wo auf die Herabsetzung der Leistungen der Sowjetunion und ihrer Armee »im Westen« mit einer ebensolchen der britischen und US-amerikanischen Soldaten reagiert wird (die bedenklichste unter den schwachen Passagen des Textes). In der neuen weltgeschichtlichen Frontstellung war Herrnstadt doppelt besorgt um die Parteinahme der ostdeutschen Werktätigen für die Sowjetunion, von deren Politik »im Prinzip«, wie er schrieb, »alles, alles, alles« zu verteidigen sei. Das hatte ein Autor des »Spiegels«, der von der Absicht einer »Bagatellisierung des Russeneinmarsches« schrieb, (wobei »Einmarsch« eine entweder gedankenlose oder zynische Bezeichnung für jene Kämpfe darstellt, die am 12. April 1945 an der Oder begannen) noch 1990 so wenig verstanden wie der Schreiber der »Zeit« 1948, der aus dem Text die Absicht der »Zwangsbefreundung« herausgelesen hatte.

Im Kern ging es in der Diskussion des Jahre 1948 darum, Deutschen begreifbar zu machen, was ihnen im Mai 1945 als Volk geschehen war. In einer der auf die Publikation in Berlin folgenden Diskussionen sagte ein sowjetischer Offizier, die Deutschen hätten vergessen, dass ihnen damals die Freiheit gebracht worden sei, nicht aber, dass ihnen ihre Uhren abgenommen worden wären. Das war goldrichtig gemeint, aber falsch gesagt. Denn – erstens – sie konnten doch nicht etwas vergessen, was sie vordem noch gar nicht begriffen hatten. Und das sollte lange dauern.

Viele von ihnen hörten und akzeptierten den Begriff »Befreiung« in Westdeutschland erst vierzig Jahre später, nachdem ihn Bundespräsident Weizsäcker 1985 in einer Gedenkrede demonstrativ benutzt hatte. Und an der Nachhaltigkeit dieses Wandels bestehen zudem berechtigte Zweifel, die sich beispielsweise auch auf filmische Darstellungen wie im Streifen »Der Untergang« richten. Und – zweitens – Befreiung bedeutete für die Mehrheit der Deutschen zunächst Befreiung von ihrer Rolle als Peiniger, Schinder und Mörder anderer Völker und nicht schon Freiheit. Die Befreiung vom Faschismus wurde den Deutschen gebracht (mit dem Zutun einer Minderheit von Antifaschisten aus dem eigenen Volk), freiheitliche Zustände und Praktiken mussten sie selbst sich gestalten.

Ein anderes, neues gemeinsames Erleben

Zwischen Herrnstadts Artikel wider den Antisowjetismus und dem Ende der DDR lagen etwa vier Jahrzehnte. Für eine unbestimmte, mit Sicherheit aber siebenstellige Zahl von einstigen DDR-Bürgern gehören zu diesen vieljährige Aufenthalte in der UdSSR, Tätigkeiten als Diplomaten, Außenhändler, Militärs, Forscher oder Studenten, längere Arbeitseinsätze wie beim Bau der Erdöltrasse »Drushba«, Urlaubsreisen sowie für Sportler Wettkämpfe und Trainingslager. All das gehört zur Geschichte einer neu entstandenen Beziehung, deren Fundament ein neues, anderes gemeinsames Erleben war. Populär waren in der DDR Sowjetbürger wie die Kosmonauten Juri Gagarin und Valentina Tereschkowa, die Primaballerinen Galina Uljanowa und Maja Plissezkaja, den Geiger David Oistrach und den Puppenspieler Sergej Obraszow, den Torwart des Fußballklubs Dynamo Moskau Lew Jaschin, die Clowns Karandasch und Oleg Popow sowie die Schauspieler Jelena Bystrizkaja (»Der stille Don«), Tatjana Samoilowa (»Die Kraniche ziehen«) und Michail Uljanow (»Schlacht unterwegs«) – nicht zu vergessen Nikita Chrustschow.

Das ist Vergangenheit. Zwischen ihr und der Gegenwart liegt das Russland Jelzins und Putins. Und die Veränderungen geben genug Gründe, über uns und unsere Nachbarn wieder und neu nachzudenken, also auch.

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