Grenzen des Vergessens

Wie unser Gehirn Erfahrungen festhält

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 2 Min.

Laut Sigmund Freud geht in unserer Psyche praktisch nichts verloren. Viele Erinnerungen würden lediglich verdrängt und existierten so im Unbewussten weiter, meinte der Vater der Psychoanalyse und erblickte darin die Ursache für zahlreiche seelische Leiden. Zwar konnte eine Verdrängung à la Freud im Experiment bisher nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Neuere Forschungen deuten indes darauf hin, dass unser Gehirn Erfahrungen länger konserviert als gemeinhin angenommen. Das berichten Mark Hübener und seine Kollegen vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie jetzt im britischen Fachblatt »Nature« (doi: 10.1038/nature07487).

Allgemein gilt: Wenn ein Mensch etwas lernt, werden seine Nervenzellen im Gehirn neu verknüpft. Die feinen Fortsätze, die dabei von einer Nervenzelle zur anderen wachsen, münden in eine Kontaktstelle, eine sogenannte Synapse. Diese befähigt die Zellen, Informationen auszutauschen. Beim Vergessen lösen sich die Kontakte wieder, die Synapsen werden deaktiviert. Wie die Forscher nun festgestellt haben, bleiben aber die Fortsätze großenteils unversehrt. »Da eine einmal gemachte Erfahrung vielleicht später noch einmal gebraucht wird, scheint das Gehirn ein paar Fortsätze sozusagen auf Vorrat zu behalten«, sagt Hübener. Man versteht sonach, warum Menschen etwa das Schwimmen nie richtig verlernen, selbst wenn sie es jahrelang nicht praktiziert haben. Eine kurze Übung genügt, und die einst erworbene Fähigkeit ist wieder da. Neues zu lernen, dauert hingegen erheblich länger.

Kann ein Mensch aber auch gezielt etwas vergessen, gar verdrängen, zum Beispiel Erinnerungen an unliebsame Ereignisse? Und verschwinden diese dann, um mit Freud zu reden, ein für allemal in den Abgründen des Unbewussten? US-Forscher sind diesem Problem unlängst nachgegangen und haben dabei jene Hirnareale lokalisiert, die ein aktives Vergessen ermöglichen. An erster Stelle wäre hier der präfrontale Cortex zu nennen, der zur Großhirnrinde gehört und andere Hirnregionen »absichtsvoll« zu beeinflussen vermag. Eine davon verarbeitet die Sinneseindrücke, die jeder Erinnerung letztlich zugrunde liegen. Eine andere kontrolliert unser emotionales Gedächtnis.

Im Experiment konnten die Forscher nun zeigen, dass Menschen bis zu einem gewissen Grad fähig sind, Erinnerungen aktiv zu unterdrücken. Das gilt allerdings nicht für traumatische Erfahrungen, die zumeist tiefe Spuren im Gehirn hinterlassen und somit nachhaltig auf unser Seelenleben einwirken. Wenn auch anders, als Freud glaubte. Denn die betroffenen Menschen sind sich im Regelfall der traumatischen Erlebnisse bewusst und nicht darauf angewiesen, dass jemand die Erinnerung daran erst aus dem Unbewussten hervorholt.

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