nd-aktuell.de / 05.12.2008 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 9

Wirtschaftswaffe verfehlt ihr Ziel

Die Briten zahlen seit Montag weniger Mehrwertsteuer – Vorbildfunktion für Europa fraglich

Von Anna van Ommen, London

In Großbritannien werden Zweifel lauter, ob zweieinhalb Prozent weniger Mehrwertsteuer die Konsumnachfrage wiederbeleben können. Die verarbeitende Industrie befürchtet die schwerste Rezession seit 20 Jahren.

Während in Deutschland das Für und Wider einer Mehrwertsteuersenkung noch diskutiert wird, ist Großbritannien seit Montag zum Praxistest übergegangen. Seit dem 1. Dezember zahlen die Briten statt 17,5 nur 15 Prozent Mehrwertsteuer. Damit trat eine Regelung in Kraft, die erst am Montag vergangener Woche im Rahmen eines neuen Wirtschaftsprogramms der Regierung angekündigt wurde. Sie zählt zu einem umfangreichen Maßnahmenpaket, das die arg geschwächte Konjunktur in Großbritannien beleben soll. Die Steuersenkung gilt bis Ende 2009 und soll jedem Durchschnittsverdiener jährlich 170 Pfund (201 Euro) mehr einbringen. Kostenpunkt für den Staat: 12,5 Milliarden Pfund. Gestopft werden soll das stetig wachsende Loch in der Staatskasse durch höhere Steuersätze für Besserverdienende, sobald die Wirtschaft wieder gesünder dasteht.

Um die Kunden zum ersten Adventswochenende in Kaufstimmung zu bringen, hatten einige Einzelhändler die Preisänderung bereits am Freitag umgesetzt. Wer eine Markenjeans kaufe, spare jetzt etwa 1,49 Pfund; ein LCD Fernseher koste rund 13 Pfund weniger, und wer sich nach dem Einkauf einen Mars-Schokoriegel gönne, gebe einen Penny weniger aus. Nicht gerade ein enormer Anreiz, das Portemonnaie zu zücken. Darüber hinaus versinken die Mehrwertsteuerersparnisse in einer Welle von Preisreduzierungen in den großen Kaufhäusern. Ausgerechnet zur Vorweihnachtszeit, wenn das Geschäft eigentlich brummen sollte, haben viele Händler ihre Waren um bis zu 60 Prozent reduziert. Das zeugt von der aktuellen Verzweiflung des britischen Einzelhandels.

Der Handel geht davon aus, dass die Mehrwertsteuersenkung Umsetzungskosten von bis zu 300 Millionen Pfund verursachen könnte. Besonders kleineren Firmen wird es schwerfallen, sich innerhalb so kurzer Zeit an die neuen Bestimmungen anzupassen. Stephen Robertson vom britischen Einzelhandelsverband BRC (British Retail Consortium) sagte, »EDV-Änderungen und neue Warenauszeichnungen werden diese Unternehmen vor eine teuere Mammutaufgabe stellen.« Laut BBC gab sogar die Regierung bereits zu, dass einige Kleinunternehmer durch die Mehrwertsteuersenkung schlechter dastehen könnten als zuvor.

Auch die Industrie prognostiziert düstere Zeiten. So warnte der britische Industrieverband EEF unlängst vor der schwersten Rezession seit 20 Jahren. Die herstellende Industrie werde 2009 um fünf Prozent schrumpfen. Eine Befragung von 800 Mitgliedern ergab, dass im kommenden Jahr bis zu 90 000 Stellen im verarbeitenden Sektor gestrichen werden könnten. Der Wirtschaftsprofessor Peter Spencer von der Universität York erklärte, die Probleme würden durch das Verhalten der Banken zusätzlich verstärkt. Denn trotz der staatlichen Finanzspritze im Wert von über 500 Milliarden Pfund seien die Kreditinstitute »paranoid und gelähmt«. »Sie sitzen lieber auf ihrem Geld, anstatt es Firmen zu leihen«, sagte Spencer.

Aus diesem Grund werden die Stimmen nach einer Komplettverstaatlichung der Banken in Großbritannien immer lauter. Damit könnte gewährleistet werden, dass das Geld dorthin fließt, wo es am nötigsten gebraucht wird. EEF-Chefökonom Steve Radley hält dies allerdings nur für den letzten Ausweg.

Eine weitere Senkung der Leitzinsen dagegen war ganz im Sinne des Industrieverbands. Am Donnerstag senkte die Bank of England wie erwartet die Zinsen um einen ganzen Prozentpunkt auf 2,0 Prozent und damit auf den niedrigsten Stand seit 1951.