Das Auf und Ab des Kapitalismus

Historie der Finanzkrisen – von Tulpenmanien und Großen Depressionen

  • Dieter Janke
  • Lesedauer: 5 Min.
Dass die aktuelle Finanz- in eine Wirtschaftskrise mündet, ist alles andere als einmalig. Der Blick in die Geschichte zeigt einen fast zweihundertjährigen Zusammenhang von Finanzkrisen und Konjunkturzyklen.

Wolfgang Franz, einer der »Wirtschaftsweisen«, befürchtet, dass die aktuelle Wirtschaftskrise immer mehr Branchen in Mitleidenschaft ziehen wird. »Eine solche Rezession, in die Deutschland jetzt hereinschlittert, frisst sich durch das System durch«, schätzte er die derzeitige Lage ein. Wie es weitergehe, lasse sich kaum sagen.

Die Hilflosigkeit des Experten ähnelt einer selbstkritischen Replik des »Manchester Guardian« angesichts der Jahrhundertkrise vor mehr als 70 Jahren: »Wir wissen von der Bewegung der Erde um die Sonne und der Sonne im Weltall mehr als von den industriellen Zyklen. Wir können die Bewegung unbekannter und unfassbar weit entfernter Himmelskörper mit größerer Genauigkeit vorhersagen als die Wirtschaftskrisen.« Markige Sätze, die auch derzeit zu Papier gebracht werden könnten.

Sicherlich wäre es anmaßend, den konkreten Verlauf und das Ausmaß des derzeitigen Konjunkturabsturzes gedanklich vorwegzunehmen. Aufschlussreich ist jedoch ein Blick auf die Geschichte der Finanzkrisen. Vielfach gingen sie konjunkturellen Rückschlägen voraus und brachten den Stein auf der Abwärtsbahn ins Rollen.

Die Geschichte spektakulärer Spekulationsgeschäfte und Finanzcrashs ist indes älter als die des konjunkturellen Wechselspiels zwischen Aufschwungphasen und Rezessionen. Solch vorindustrielle Turbulenzen waren z. B. die »Tulpenmanie« in den Niederlanden zwischen 1634 und 1637 sowie die Spekulationsgeschäfte des Schotten John Law, der in seiner Wahlheimat Frankreich bis zu seinem jähem Absturz 1720 als Finanzgenie gefeiert wurde. Im vorwiegend auf die Versorgung der lokalen Märkte orientierten Umfeld kam es dabei nicht zu volkswirtschaftlichen Flächenbränden. Das änderte sich jedoch mit dem Durchbruch der industriellen Massenfertigung zunächst in England. In der Endphase der industriellen Revolution ging der Wirtschaftskrise von 1825 ein groß angelegter Gründungs- und Aktienschwindel voraus. Seither folgen im Abstand von etwa acht bis zehn Jahren konjunkturelle Wirtschaftseinbrüche, die im 20. Jahrhundert lediglich durch zwei Weltkriege und deren Folgen überlagert wurden.

Mit der ersten Weltwirtschaftskrise von 1857 erreichte der Krisenzyklus alle wichtigen Wirtschaftsnationen Europas und Nordamerika. Für den wachsenden Kapitalbedarf beim Eisenbahnbau und die Erschließung neuer Goldlagerstätten in den USA hatten sich erste Großbanken und Aktiengesellschaften gegründet. Im Zuge allgemeiner Prosperität kam es auch in Deutschland zu einer Spekulationswelle. Wichtigstes Motiv für den Aktienkauf war hier bereits nicht mehr die Aussicht auf Dividendenzahlungen, sondern vielfach schon die Spekulation auf bloße Gründer- und Kursgewinne. Erste Gesellschaften waren entstanden, deren vorgeblicher Zweck ein reines Phantom war. Real dienten sie ausschließlich dem Profit ihrer Gründer. Schwindel und Korruption erlebten eine bislang unbekannte Blüte, bis das Kartenhaus im August 1857 in sich zusammenbrach. Über Großbritannien schlug die Krise auch auf Deutschland durch und wurde als solche erstmalig auch im unmittelbaren Alltag spürbar.

1873 stürzten die Industrienationen Europas und Nordamerikas wiederum in eine tiefe Rezession, die sogenannte Gründerkrise. Ihr war ein Gründungsboom von Kapitalgesellschaften vorausgegangen. Parallel erlebte der sprichwörtliche »Tanz ums goldene Kalb«, von dem auch Teile des bürgerlichen Mittelstandes erfasst worden waren, eine neuerliche Blüte. Grundstücks- und Bauspekulationen sowie das spekulativ in die Höhe getriebene allgemeine Preisniveau fanden indes ihr Ende nach dem Börsencrash in Wien vom Mai 1873, dem die Märkte in New York und Berlin im September bzw. im Oktober folgten. Deutschland und Österreich erlebten die Insolvenz von über 60 Geschäftsbanken sowie eine drastische Schrumpfung der Unternehmensgründungen und Investitionsprojekte. Bis in die 1890er Jahre hinein folgte die »Große Depression«, eine Phase allgemeiner Verlangsamung des industriellen Wachstums.

Die konjunkturellen Einbrüche fielen in den Jahren danach entsprechend weniger spektakulär aus. 1907 waren es wiederum spekulativ-preistreibende Geschäfts- praktiken in den USA, die zum auslösenden Moment eines Konjunktureinbruches geworden waren und auf alle wichtigen Industriestaaten übergriffen. Die nächste, für 1913/14 fällige Wirtschaftskrise fiel allerdings im Zuge der allgemeinen Vorbereitungen auf den Ersten Weltkrieg aus, der einen gigantischen zusätzlichen Markt für unproduktive Güter schuf.

Als der Wirtschaftszyklus nach 1918 wieder Tritt zu fassen begann, blieben die am meisten unter den Kriegsfolgen leidenden Länder Frankreich und Deutschland von der Rezession des Jahres 1920 verschont.

Die »Goldenen Zwanziger« nährten wiederum die Illusion eines ewigen Booms, während sich im Hintergrund die Bedingungen für einen neuerlichen konjunkturellen Absturz zusammenbrauten, der alle bisherigen Rezessionen in den Schatten stellen sollte. Er bereitete sich mit dem drastischen Auseinanderfallen von Wirtschaftsleistung und Reallöhnen vor allem in den USA und Deutschland vor. Vagabundierendes, weil nicht mehr profitabel für Erweiterungsinvestitionen einzusetzendes Kapital orientierte sich kaum noch an den Preisen materieller Produkte wie Rohstoffe und Halbfabrikate. Es wich auf Wertpapiere und noch stärker als bislang auf Aktien aus. Die Folge war ein beispielloser Börsenboom, der jeden Bezug zur Realwirtschaft verloren hatte. Das jähe Ende kam am 24. Oktober 1929 mit einem Kursabsturz an der New Yorker Börse, der zur Umkehr der Finanzströme führte. Gelder, die in den Jahren davor in andere Volkswirtschaften investiert worden waren, wurden überstürzt abgezogen. Weltweit waren Turbulenzen an den Finanzmärkten die Folge, bei denen überschüssiges Kapital in bislang nicht gekanntem Ausmaß »verbrannt« wurde. Auf dem Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise 1932 war die Industrieproduktion in Deutschland auf 58 Prozent des Stands von 1928 zurückgefallen, nur noch ein Drittel aller abhängig Beschäftigten war vollbeschäftigt, fast die Hälfte – 44 Prozent – war arbeitslos.

Die Geschichte der Krisen lehrt indes auch, dass aus ihnen nur selten Lehren gezogen wurden. Beim Aufschwung hielt Vergesslichkeit Einzug. Und so erklärt sich wohl die Einschätzung des »Wirtschaftsweisen« Wolfgang Franz anno 2008: Es sei eine »historisch, negativ gesehen, fast einmalige Situation«, da die Abschwächung der Wirtschaft mit einer tiefgreifenden Finanzkrise zusammenfalle.

Dieter Janke arbeitete bis 1991 am Wissenschaftsbereich Wirtschafts- und Theoriegeschichte der Universität Leipzig.

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