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Die Entführung aus dem Wohnzimmer

Mit »Türkisch für Liebhaber« gelingt der Neuköllner Oper ein zeitgemäßes Singspiel

  • Antje Rößler
  • Lesedauer: 3 Min.
Neuankömmling Ercan verstrickt sich.
Neuankömmling Ercan verstrickt sich.

Architekt Ercan ist Mitte zwanzig und sieht einfach umwerfend aus. Der Neuankömmling aus Ankara wird im Kreise der Berliner Verwandten einquartiert. Verstrickungen mit dem schönen Geschlecht lassen nicht auf sich warten: Onkel Mahmut will ihn mit Mine verkuppeln, die hat schließlich einen deutschen Pass. Ercan legt die Studentin ebenso flach wie deren Freundin Sinem. Und dann gibt es da auch noch die blonde Kati, eine Kollegin aus dem Architekturbüro.

Was sich ausnimmt wie eine für die türkische Community maßgeschneiderte Soap Opera, ist der neueste Wurf der Neuköllner Oper. Kaum zu glauben, dass der Geschichte ein Singspiel aus dem 18. Jahrhundert zugrunde liegt. »Der wohltätige Derwisch« stammt von einem Komponisten-Team um Emanuel Schikaneder, den Librettisten der »Zauberflöte«. Das Stück hat jedoch mehr Ähnlichkeit mit Mozarts »Entführung aus dem Serail«; es handelt sich gleichfalls um eine so genannte Türkenoper. Orientalische Klischees waren damals auf der Bühne große Mode, als Folge der Belagerung Wiens durch die Türken im Jahre 1683.

Mit der Qualität der Mozart-Opern kann die Musik des »Derwisch« freilich nicht mithalten, umso besser eignet sie sich jedoch zur Bearbeitung. Die 28-jährige Berliner Komponistin Sinem Altan arrangierte die Partitur für ein Kammerensemble, das Orchester- und türkische Instrumente vereint. Hans-Peter Kirchberg leitet die achtköpfige Truppe vom Klavier aus. Die Komponistin ergänzte die Singspiel-Einlagen bruchlos mit orientalischer Folklore, aber auch mit Swing und Tango.

Die Handlung hingegen wurde vollkommen umgekrempelt. Das war auch notwendig, denn die Abenteuer eines türkischen Prinzen, der mit Narrenkappe gegen Feuer speiende Drachen kämpft, würden heute nichts als Kopfschütteln hervorrufen. Die Kolumnistin Dilek Güngör hat hier ihren ersten Bühnentext abgeliefert, der gleichwohl noch einige Schikaneder-Zitate enthält. »Die Männer zu fesseln, ist unser Gewinn. Sie dann zu vernichten, ist weiblicher Sinn«, trällern etwa die Busenfreundinnen Mine (Aline Vogt) und Sinem (Nina Reithmeier) im Strandcafe; stimmlich und darstellerisch bilden sie ein entzückendes Pärchen.

Kein Wunder, dass Ercan beiden auf den Leim geht. Kerem Can gibt dessen Zerrissenheit zwischen Macho-Gehabe und moralischen Skrupel glaubwürdig wieder. Regisseur Søren Schuhmacher bringt die Vorlage mit seinem multinationalen Ensemble kurzweilig auf die Bühne. Ort der Handlung ist das »türkisch« gestylte Wohnzimmer von Ercans Verwandten: ein Tisch mit Glasplatte und goldglänzenden Beinen, dahinter die überdimensionale Couchgarnitur. Darin versinkt Hausherr Mahmut im Unterhemd, Raki und Fernbedienung in Griffweite.

Die Bandbreite des Stücks reicht von pointiertem Witz bis zu hintergründigem Ernst. »Ich kenne auch nette Berliner«, sagt Ercan zu seiner deutschen Kollegin. »Bist Du schon mal Bus gefahren?«, fragt die zurück. Der Saal lacht. Dann wieder geht Mines Ballade »Ich krieg ein Kind, im Suff gezeugt« wirklich ans Herz. Letztlich stellt die Aufführung die Frage nach der eigenen Identität: Wer bin ich, und was will ich? Das herauszufinden, ist eben besonders schwierig, wenn verschiedene Kulturen die eigene Persönlichkeit prägen.

6./7.12, 11.-14.12, 18.-21.12, 26.-28.12., jeweils 20 Uhr, Neuköllner Oper, Karl-Marx-Straße 131-133

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