nd-aktuell.de / 08.12.2008 / Kultur / Seite 12

Lob des Unkrauts

Frank Wedekinds »Frühlings Erwachen« am Berliner Ensemble

Hans-Dieter Schütt

Am Anfang, zum Geburtstag der vierzehnjährigen Wendla, werden die Kerzen auf einem Kuchen ausgeblasen, es weht ein kleiner Nebel aus Puderzucker, verflüchtigt sich rasch, begleitet vom neckischen Lebenslachen Wendlas und ihrer Mutter. Ganz am Ende klebt dicker gespenstischer Friedhofsnebel in der Luft, und wieder wird gelächelt. Der Junge Moritz ist es, der sich erschoss, ein kurzer Ausstieg aus dem Grab, und sein Lächeln ist ein erlöstes Totenlächeln, denn die Verwesung wärmt. Ach ja, links am Bühnenrand liegt noch ein Grab, Wendlas Grab; viel ist geschehen, aber sie ist noch immer, und auf ewig, ganze vierzehn Jahre alt.

Frank Wedekinds Kindertragödie »Frühlings Erwachen« am Berliner Ensemble, inszeniert von Claus Peymann, Bühne: Achim Freyer. Hohe Stellwände oder Lamellen oder Schwingtüren halten das Stück auf eine erbarmungslose Weise luftig, obwohl die Figuren, die da gleichsam immer wieder auf die Vorderbühne gespuckt werden, ins Stickige gespieen werden, ins Drückende, Eingeklemmte, kalt Pressende. Hier gibt es nur Schwarz und Weiß, Licht und Schatten, die Extreme berühren sich auf mürbende Weise: Kinder und Erwachsene, heiße Jugend und erkaltetes Alter, berauschendes Begehren und herzlose Ertüchtigung. Und die Schule ist eine Anstalt, in der man nur das für das Leben lernt, was man gegen das Leben lernte. Wedekind erzählt von schüchterner jugendlicher Selbstfindung, die in sofortigen Kontrast zur verheuchelten sittlichen Fassade gerät, aus Gefühlsstau wird Vergewaltigung, Wendla wird von Melchior geschwängert, der Junge wird von der Schule geworfen, weil er den Selbstmörder Moritz mit aufwiegelnd-erotischem Aufsatz in die Wirrnis gestoßen habe. Welche Bedrängung kann noch aus solchem Stück kommen?

Vierzehnjährige, von ihrer Sexualität überrascht wie von einem bebenden Weltanfang. Das schon ist die Bedrängung. Denn Peymanns Inszenierung kommt aus dem Gefilde unseres geheimnisfremden Alltags, in dem einzig die lichtgrelle Entblößung geheiligt ist. Kein durchschauerndes Erschrecken mehr über die Welt, keine Hemmungen mehr vor den Erschütterungen der Liebe, keine zittern machende Berührung mehr mit unverstehbar Höherem. Die Moderne? Ein Modern: Fast schmierig klebt alles und jeder an einem Leben aus lauter Durchschaubarkeiten, man ist auf erledigende Weise Eingeweihter, User, Informierter, und das spöttische Lächeln so vieler deutet auf fortwährende Siege hin. Man geht auf kein Nichts mehr zu, man hat es hinter sich gelassen – und hält das für den größten Sieg. Inmitten dessen nun der Blick auf diese Kinder, Peymann zieht nichts her zu uns, nichts herunter zu uns.

Die Inszenierung setzt auf diesen Gedanken der Fremdheit, und das Ferne ist näher als vermutet. Peymann lässt den Jungs die knielangen Hosen und die alten Ranzen. Er stellt Kindlichkeit aus, zielt mit seiner szenischen Kargheit und Lakonik und seinem gleichzeitigen Bekenntnis zu jenem hohen Ton, der Eros und Tod an einen einzigen Atemzug zu binden vermag, aufs Gleichnis: Der Konflikt mit der Welt ist am größten, wenn man sie noch vor sich hat; und die verführerischsten Gedanken sind jene, die so voll Glück sein wollen und mit denen man so ungestört sein möchte, dass man über sie am liebsten im Grab nachsinnen würde. Ist das etwa unzeitgemäß? Es ist alt, aber unvergänglich.

Mit einer Blechdose wird Fußball gespielt. Die Mädchen kichern sich in ihre Träume von Familie hinein. Eine sagt, sie wünsche sich Kinder, die sein dürften wie Unkraut in einem Garten. Der Satz ist, in aller Beiläufigkeit, das utopische Zentrum: Unkraut – keiner verlangt nach ihm, aber es wächst; keiner schenkt ihm zusätzlichen Regen, aber es grünt; wer es fürchtet, fürchtet seine Fruchtbarkeit. Schöne Selbstverständlichkeit, da sein zu dürfen. Bis solch Kraut ausgerissen wird.

Zu viel Störung von Ordnung und Sauberkeit. Frühlings Erwachen. Ein böses Erwachen. Moritz erschießt sich, weil er so nicht mehr erwachen will. Er reißt verwirrt, verstört aus, reißt sich selber aus dem harten Grund, der ihm keinen Grund mehr zum Leben gibt.

In Wendla, Moritz und Melchior zeigt die Inszenierung den schönen und doch so unbarmherzig zerreißenden Zustand des jungen Menschseins: sich um keinen Preis zu genügen im gegenwärtigen Wesen, sondern sich selber einzig als Verheißung zu sehen, als unausgeschöpfte Möglichkeit, als pures Kommendes. Wie es Peter Handke schrieb: »Es ist die Zeit, da das Wünschen noch hilft. Es ist dies der reichste Egoismus, zu dem wir – früh im Leben – fähig sind, der aber rasch verfliegt, weil sich die Sprengkraft der Träume schon am nächsten Schulaufsatz, am nächsten Elternerlass die nasse Lunte holt. Welch kurzer Weg zur Tragödie: Unsere Seele übersteht das weniger als unser Leben.«

Ein dreistündiger Abend, der ganz auf eine junge Truppe Spielender setzt, deren Namen man hier gern vollständig auflisten würde. Das Spiel hat bravouröse Genauigkeit und keine Furcht vor einem pathetisch ungebremsten Schwung. Als wollten aus den Jungs da Schillers »Räuber« werden. Aber vorher sind sie Gebrochene.

Sabin Tambrea ist ein schlaksiger, grübelnder Melchior, mit tiefliegenden dunklen Augen, nervös rauchend, reizbar ins Innere gekehrt, ein Hauch Verführer, wie er in jeder höheren Intelligenz steckt; das sauber glatte Haar erst zum Schluss wirr wie das von Moritz, eine Art Ankunft im wirklichen, zausenden Leben. Den Moritz erhebt Lukas Rüppel zu einem mundoffnen Stauner und Schwärmer, der im Versetzungsglück taumelt wie schaumgeboren; er stirbt, als schütze er so seine eigene Natur, und dann, als weißmaskierte Leiche, die den eigenen Kopf unterm Arm trägt, wird er noch einmal Melchior begegnen. Die Erwachsenen: Wesen, die kein Weltall mehr anbrüllen, die nicht einmal mehr Flüche flüstern. Swetlana Schönfelds wieselig tänzelnde Mutter, wie sie ihre strahlend naive Wendla (Anna Graenzer) umgurrt und umgluckt und unter die Schürze nimmt und sie verheerend klemmig »aufklärt« und die Schwangerschaft in eine Bleichsucht umlügt und die Tabletten der Nachbarin nimmt und schuldig wird im Tod des Mädchens – diese sich rührend-komisch und beflissen windende Mutter wird durch Schönfeld zum Inbild einer so gütigen wie verfluchenswerten Anpassung an die scheinbar richtige Moral, die nur eine furchtbar richtende ist. Peymann erhebt die Lehrerschaft, deren Schuhe auf Würfelsockeln kleben, zu einem grimassierenden Knäuel der beamtenen Idiotie, zylinderuniformiert, das die Doktrinierungsgesten des Rektors (Axel Werner) beglückt mechanisch nachvollzieht. Ein grotesker Halbkreis der lemurenartigen Dämonie. Es kommt flüchtig der Gedanke auf, sich diese dummböse Machtspinne ernster, weniger absurd und kabarettistisch vorzustellen, aber das Schlimme an der Welt ist just die Unbedrängtheit, zu der sich das offensichtlich Dumme, Entfremdete, durchschaubar Lächerliche so herrschend emporschwingen darf.

Vom Friedhof aus – die Schwingtüren fielen, und nun liegen sie wie aufgebrochene Gräber – führt ein vermummter Herr (Manfred Karge wie ein souverän handelnder Zirkusdirektor) den Melchior ins Erwachsenenleben. Ein kühler Mephisto der praktischen Lebenskunst: Wer die Kindertragödie übersteht, muss nicht mehr befürchten, dass die Existenz noch mit Liebe droht.

Nächste Vorstellung: 15. 12.