Welten zwischen Altiplano und Santa Cruz

Die »Latinos« des bolivianischen Tieflands wollen ihren Reichtum nicht mit den indigenen Landsleuten hoch in den Anden teilen. Und so scheiden sich die Sichten auf die Politik des Präsidenten Evo Morales. Señor Suarez indes bleibt optimistisch.

  • Peter Herrmann
  • Lesedauer: 7 Min.
Ganz anders das Bild in Santa Cruz. Das Kreuz neben Evo Morales' Namen an einer Mauer ist eindeutig: Der »Mörder« soll sterben.
Ganz anders das Bild in Santa Cruz. Das Kreuz neben Evo Morales' Namen an einer Mauer ist eindeutig: Der »Mörder« soll sterben.

Copacabana ist nicht nur der berühmteste Stadtteil des brasilianischen Rio de Janeiro, nicht nur ein vier Kilometer langer Strand, Copacabana heißt auch ein kleines Städtchen in Bolivien mit etwa 10 000 Einwohnern. In 3810 Meter Höhe am Ufer des Titicaca-Sees gelegen, ist dieses Copacabana der erste Ort, den Reisende erreichen, wenn sie die peruanisch-bolivianische Grenze überschreiten.

Gegründet wurde die Siedlung einst von den Inkas, die sie Kota Kahuana nannten, was so viel wie »Seeblick« bedeutet. Treffender konnte der Name nicht gewählt werden, denn von hier hat man einen prächtigen Ausblick auf die Weiten des Sees.

Ein Grenzoffizier nimmt Haltung an

Am bolivianischen Grenzposten nimmt sich der Diensthabende viel Zeit für die Kontrolle der Pässe. Während er mit strengem Blick die Seiten durchblättert, werfen wir einen kurzen Blick in den kleinen Abfertigungsraum. Neben Informationstafeln, Karten und Plakaten, die an den Wänden hängen, fällt uns ein Foto ins Auge, das den bolivianischen Präsidenten Evo Morales zeigt. Um unsere eigene Ungeduld zu mildern – die Passkontrolle dauert noch an –, deute ich auf das Bild und gratuliere einem zweiten im Raum befindlichen Offizier: »Felicitación!« (Glückwunsch).

Die folgende Reaktion ist verblüffend. Urplötzlich nimmt der Mann Haltung an, schlägt die Hacken zusammen, ballt die Hände zu Fäusten und verkündet mit lauter Stimme: »Mit dem Präsidenten werden wir eine neue Verfassung verkünden und die Anhänger der Autonomie in die Flucht schlagen.« Dass ein Offizier so offen seine Sympathie für Morales und dessen Politik des Wandels erklärt, überrascht uns etwas. Immerhin war Boliviens Armee in der Vergangenheit vor allem ein Hort von Abkömmlingen der herrschenden Klasse. Offenbar aber findet Evo Morales auch unter den Uniformträgern immer mehr Anhänger.

Warum das so ist, erfahren wir zwei Tage später, nachdem wir von La Paz zum 20 Autominuten entfernt liegenden internationalen Flughafen El Alto gefahren sind – gelegen in 4000 Meter Höhe. Am Informationsschalter spricht uns ein älterer Herr an. Hector Suarez, so sein Name, hat in den 50er Jahren in Europa studiert. Erlangen war seine erste Station, »aber da gefiel es mir nicht, weil die Stadt fest in den Händen der dort stationierten US-Soldaten war«, erzählt er. Die Gringos hätten bei den Lateinamerikanern nun mal keinen guten Ruf. Und so wechselte er nach Wien, wo er 1959 sein Studium abschloss.

Zurückgekehrt in seine Heimatstadt La Paz, war er vierzig Jahre lang an der Universität der Hauptstadt beschäftigt, bevor er sich 2005 als Professor für Mathematik ins Rentenalter verabschiedete. Eine Altersversorgung gibt es in Bolivien allerdings nicht. Deshalb, erklärt Señor Suarez offen, bessere er seinen Lebensstandard als Reiseführer auf. Bisher ist Bolivien allerdings noch kein Reiseland. Knapp eine Million Touristen zählt man im Jahr.

Nein, die von den Gegnern des Präsidenten betriebene Politik der Abspaltung einzelner Landesteile stelle keine Gefahr dar, schätzt der emeritierte Mathematikprofessor ein. Weder für eine Entwicklung des Tourismus noch für den Bestand Boliviens als einheitlicher Staat. »Die Armee ist der Garant dafür, dass Bolivien nicht infolge der Autonomiebestrebungen auseinanderbricht«, gibt sich Señor Suarez überzeugt. »Kein General in Bolivien möchte Oberbefehlshaber einer Armee des Departamento Santa Cruz sein«, fügt er hinzu und verpasst damit der Autonomiebewegung der reichen Tieflandregion um Santa Cruz eine klare Abfuhr.

Indios haben erstmals Rechte

Geradezu begeistert berichtet Suarez dagegen von der Abschlussveranstaltung des Marsches zehntausender Indígenas, Bauern, Minenarbeiter und Anhänger der Bewegung zum Sozialismus (MAS) auf der »Plaza Murillo« in La Paz. Die Marschteilnehmer hatten über 200 Kilometer zurückgelegt, um ihrer Forderung nach einem Verfassungsreferendum Gehör zu verschaffen. Warum Präsident Morales vor allem von den Bewohnern des Hochlands solche Unterstützung erhält? »Hier bei uns im Altiplano, zwischen 3000 und 4000 Meter hoch gelegen, leben rund 80 Prozent aller Bolivianer. Erstmals in der Geschichte des Landes haben die meisten, insbesondere die Bauern und die Indios, aber auch Bergarbeiter, tatsächlich bürgerliche Rechte. Jahrhundertelang konnten die Besitzer der großen Plantagen und Minen mit ihnen und dem Land machen, was sie wollten. Wenn jemals einer der Indios auf die Idee gekommen wäre, vor Gericht zu ziehen, um zu klagen – er wäre abgewiesen worden, da er nach offizieller Lesart keinerlei Rechte besaß.« Alle früheren Regierungen seien schließlich von den Nachfahren der Kolonialisten oder vom Militär gebildet worden. Und die orientierten sich ausschließlich an den Interessen einer Gesellschaft, die sich auf das europäische Erbe bezog. »Die indianische Kultur wurde und wird von den meisten ›Latinos‹, den Nachkommen der Kolonialherrscher, verachtet.« Daran habe auch ein Gesetz aus dem Jahre 1995 wenig geändert, das die Rechte der Indios stärken sollte. Suarez weiß: »In den Schulen wurde nur auf Spanisch unterrichtet – eine Sprache, die Indiokinder zu Hause nicht lernen, die sie nicht kennen.«

Kein Wunder, dass wir auf der mehrstündigen Fahrt vom Titicacasee nach La Paz fast an jedem Kilometerstein, jedem Lichtmast und an vielen Häuserwänden lesen konnten: »Si Evo«, »Si MAS« – Ja zu Morales und seiner Bewegung. Letztendlich, so glaubt Suarez, habe die Opposition dem Druck der Bevölkerungsmehrheit nachgeben und Ende Oktober den »Nationalen Pakt« unterzeichnen müssen.

Den Optimismus des Professors noch im Ohr, landen wir 90 Minuten später in Santa Cruz del Sierra, Hauptstadt der Provinz Andrés Ibáñez und Zentrum der im »Bürgerkomitee Pro Santa Cruz« versammelten Autonomiebewegung. Dank des günstigen subtropischen Klimas und reicher Vorkommen an Erdöl und Erdgas produziert die Provinz 30 Prozent des bolivianischen Nationaleinkommens. Mit diesem Reichtum im Rücken streitet die Mehrheit der 1,5 Millionen Einwohner, von denen etwa 90 Prozent Nachfahren der spanischen Kolonialherren und europäischer Einwanderer sind, für größere Autonomie.

Auch eine relativ große Gruppe deutscher Emigranten siedelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Region an. Seit 1936 gibt es eine deutsche Schule in Santa Cruz, und die Existenz einer Außenstelle des Goethe-Instituts dokumentiert, dass die Bundesregierung die Stadt – in Deutschland kaum bekannt – nach wie vor für wichtig hält.

»Keine Zustände wie in Venezuela!«

So ist es kaum Zufall zu nennen, dass der Reisende beim Bummel durch das Stadtzentrum auf eine junge, Deutsch sprechende Frau trifft. Cyntia Franco, dem Äußeren nach keine »Latina«, hält mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. Angesprochen auf eindeutige Losungen und Plakate in der Stadt sagt sie: »Wir sehen nicht ein, dass La Paz darüber entscheidet, was mit dem bei uns produzierten Reichtum geschieht.« Die von extremistischen Anhängern der Autonomiebewegung geforderte Ermordung Evo Morales' lehnt Frau Franco zwar ab, aber an der neuen Verfassung, die durch ein Referendum bestätigt werden soll, lässt sie auch kein gutes Haar: »Wir wollen keine venezolanischen Zustände bei uns«, betont sie. Und auf die Frage, was darunter zu verstehen sei, entgegnet sie: »Chávez will den Kommunismus.«

So leicht wollen wir uns in der Diskussion doch nicht geschlagen geben und fragen, warum die Zentralregierung nicht in der Lage sein sollte, die Finanzen entsprechend den regionalen Bedürfnissen und Bedingungen gerecht zu verteilen. Die Antwort ist ebenso überraschend wie simpel. Señora Franco führt ein Beispiel an: Seit Jahren seien viele Straßen außerhalb von Santa Cruz in sehr schlechtem Zustand, mit Löchern übersät. Die Regierung unternehme jedoch nichts, um diesen Zustand abzustellen. Mit eigenen Augen hatten wir indes gesehen, wie löchrig noch manches Hüttendach im bolivianischen Hochland ist.

Für den 7. Dezember war das Verfassungsreferendum ursprünglich anberaumt, doch es musste ins kommende Jahr verschoben werden. Zu hoffen wäre, dass auch die intelligente Oberschicht im Tiefland irgendwann zu rationalem Denken findet. Andernfalls drohte wohl die Gefahr, dass sich die optimistische Sicht von Señor Suarez nicht bewahrheitet.

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