Miss Amelias kämpfendes Herz

Carson McCullers und ihre »Ballade vom traurigen Café«

  • Kerstin Hensel
  • Lesedauer: 6 Min.

Die meisten amerikanischen Romane beginnen mit einer kurzen Angabe des Schauplatzes und des Themas. Dann dauert es nicht lange, und der Leser kann sich den Ablauf der Handlung selbst ergänzen. Unausweichlich wird er mitgezogen von der üblichen Gesprächigkeit, ja, Besessenheit des pedantischen Geistes, der noch die winzigste Situation, den kleinsten Gedanken, das nebensächlichste Ding dem Leser in größtmöglicher Ausführlichkeit beschreibt. Nichts wird ausgelassen, nichts verdichtet, alles wiederholt sich in der Betriebsamkeit der gewiss unzweifelhaft talentierten Autoren.

Nur wenige amerikanische Genies (Faulkner, Poe, Salinger z.B.) faszinieren mit ganz eigener unverkennbarer Prosa, die, in einer Ecke finsterer Provinz handelnd, immer Weltgebilde sind. Carson McCullers (1917-1967) gehört zu diesen Ausnahmen, und ich finde es nicht übertrieben, wenn Tennessee Williams über sie urteilte: »Carson McCullers ist in meinen Augen die bedeutendste Autorin Amerikas, wenn nicht der Welt. Ich habe in ihrem Werk eine Dichte und einen Adel des Geistes gefunden, wie es sie seit Melville in unserer Prosa nicht mehr gegeben hat.«

»Das Städtchen selbst ist ziemlich trostlos ... es liegt verlassen da, trübselig und abseits, und wie abgeschnitten von allen anderen Ortschaften der Welt ... Diese Augustnachmittage! ...« Der Anfangssatz der Novelle »Ballade vom traurigen Café« ist so einfach wie poetisch, so dicht wie weitgreifend. Er führt in ein Prosakunstwerk, das auch mir, obwohl 1943, also vor mehr als einem halben Jahrhundert verfasst, noch heute den Atem stocken lässt. Als sei keinerlei Zeit über diese Novelle hinweggegangen, führt sie mich mit Genauigkeit und Phantasie in die staubige Trostlosigkeit einer Südstaatenprovinz, in der sich das Ungeheuerliche aufspielt, als sei es das Normale: eine grandiose Szenerie, von der man in der deutschen Literatur kaum vergleichbares findet. (Bei Grimmelshausen, Jean Paul, Günter Grass vielleicht.)

In einem sterbenden Baumwollfabrikstädtchen machen wir die Bekanntschaft mit Miss Amelia, einer grimmigen, übergroßen, männlich durchmuskelten, spuckenden, schlagenden alten Jungfer. Sie besitzt einen Laden, den sie mit eiserner Hand führt, betreibt nebenher eine Schnapsbrennerei, treibt Geld ein und, als sei es der einzige Beweis ihres Menschseins: die Leute kommen auch zu ihr, um sich mit allerlei Hexensalben kurieren zu lassen. Miss Amelia ist die reichste Frau im Städtchen und war einmal – zehn Tage lang! – mit Marvin Macy, einem kriminellen Tunichtgut, verheiratet. Anscheinend war es für Amelia nur der Wunsch nach Gesellschaft, dass sie sich mit diesem Kerl eingelassen hat, denn als Marvin in der Hochzeitsnacht versucht, mit seiner biestigen Angetrauten zu schlafen, stößt sie ihn zurück. Für immer. Marvin verlässt die Stadt, wird zum gefährlichen Verbrecher und landet im Zuchthaus.

Inzwischen bekommt Miss Amelia Besuch von einem buckligen Zwerg, der sich als ihr Vetter Lymon ausgibt und den sie nie zuvor gesehen hat. Der Bucklige ist tuberkulös, homosexuell, eine elende weinende Missgeburt. Doch Miss Amelia verliebt sich in ihn. Die Gegenwart Lymons, der von den Arbeitern des Städtchens wegen seines eitlen geckenhaften Auftretens belacht wird, bringt immerhin Geselligkeit in den Laden, und so wird dieser zu einem Café umfunktioniert. Sechs Jahre lang geht alles gut. Die scheußalhafte Natur Miss Amelias wandelt sich nach und nach in eine gewisse Liebenswürdigkeit.

Dann kommt Marvin aus dem Zuchthaus zurück. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Miss Amelia, bislang schlagkräftige Herrscherin ihres Reiches, ist, da sie ihre Liebe gefunden hat, plötzlich verwundbar. Sie weiß es. Vetter Lymon, dieser geschwätzige Tyrann, ist von Marvin fasziniert. Obwohl dieser den Zwerg mit Verachtung behandelt, folgt Lymon ihm in hündischer Ergebenheit. Marvin nutzt den Kretin als sein Werkzeug, um sich an Amelia zu rächen. Amelia, die zusehen muss, wie ihre beiden »Männer« sie ins Parterre des eigenen Hauses verbannt haben, erträgt alles, weil ihre Liebe zu dem Zwerg so groß ist, dass sie auch dessen Liebe zu ihrem tödlichen Feind Marvin hinnimmt. »Wenn man einmal mit jemandem zusammengelebt hat, ist es qualvoll, nachher allein zu leben ... lieber sollte man seinen Todfeind bei sich aufnehmen, als sich dem Grauen des Alleinseins auszuliefern.«

Die beiden entsetzlichen Männer quälen und demütigen Miss Amelia. Eines Tages explodiert der Hass zwischen ihr und Marvin. In einem lächerlichen, schrecklichen Ringkampf, dem die ganze Stadt beiwohnt, siegt Amelia über Marvin. Doch dann springt der Bucklige auf ihren Rücken und würgt sie, so dass Amelia aufgeben muss. Schließlich verschwinden Marvin und der Zwerg zusammen, zerstören vorher noch Amelias Schnapsbrennerei und verwüsten das Café. Jahre lang wartete Amelia vergeblich auf die Rückkehr ihrer Liebe, dann ist sie eine gebrochene Frau, und das Städtchen so trübselig, wie es am Anfang der Novelle geschildert wurde: »... die Seele verkümmert vor Langeweile. Man kann ebenso gut zur Forks-Falls-Landstraße laufen und den Kettensträflingen zuhören.«

Es ist eine unerschrockene Phantasie, die Carson McCullers in dieser Novelle ausspielt: eine Phantasie, die sich die Freiheit nimmt, dem Schrecklichen menschlich ins Auge zu schauen, ohne zu demütigen oder die Würde zu verlieren. Gewiss, man muss Groteske und Allegorie als literarische Form mögen und sie nicht, wie es auch Carson McCullers in Kritiken erfahren hat, als ausgedachte Spinnerein, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben, abtun. McCullers Quintessenz ihres Schreibens (und Lebens) lässt sich wie folgt ausdrücken: »Wie kann sich ein Mensch ohne Liebe in die Lage eines anderen Menschen versetzen? Wie kann man ohne Liebe und den zur Liebe gehörenden Kampf einen Charakter erschaffen?«

Carson McCullers wurde nur fünfzig Jahre alt. Wie die meisten bekannten amerikanischen Autorinnen hatte sie ein Leben geführt, das von Höhenflügen und Katastrophen heimgesucht wurde, hinter denen jede Phantasie zurücksteht. Sie wuchs in einer Kleinstadt in Georgia auf, galt als musizierendes Wunderkind, schrieb mit 16 Jahren ihren ersten Roman, las ein unglaubliches Pensum Weltliteratur (incl. der Schriften von Karl Marx), heiratete 1937 den Kadetten Reeves McCullers. Die Ehe mit Reeves scheiterte u.a. an dessen Unvermögen, selbst Schriftsteller zu werden und dem Neid, den er auf Carsons unerhörte Erfolge hatte. 1940 ließen sie sich scheiden. Carson zog nach New York, wirkte in der dortigen Kunst- und Literaturszene mit, fand ihre große Liebe in einer Frau und lebte mit Tennessee Williams zusammen. Carson bekam drei Schlaganfälle, ihr wurde eine Brust amputiert und sie verbrachte die letzten Jahre gelähmt an den Rollstuhl gefesselt. 1967 starb Carson in Nyack (NY) an einem Schlaganfall.

Carson McCullers bekannteste Werke sind die Romane »Das Herz ist ein einsamer Jäger«, »Frankie«, »Uhr ohne Zeiger« (auch in Lizenz bei »Volk & Welt« erschienen), sowie »Spiegelbild im goldenen Auge« und »Die Ballade vom traurigen Café«. 1963 ist die »Ballade« in der Dramatisierung von Edward Albee am Broadway aufgeführt und 1990 von Simon Callow verfilmt worden. Wer sich von wirklichen Menschen erzählen lassen will, wer von Literatur tiefere Erkenntnisse, die die Grenzen des sog. Normalen übersteigen, verlangt; wer unideologisch, unidealistisch mit Spannung, Phantasie und scharfem Denken seine eigene Welt übersteigen will – der sollte Carson McCullers lesen, allen voran Die Ballade vom traurigen Café.

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