Theaters Sehnsucht nach Tarkowski

Berliner »Spielzeit Europa« zeigte Andrea Breths »Verbrechen und Strafe«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Jens Harzer als Raskolnikow
Jens Harzer als Raskolnikow

Er steht da, als hätte er alles überstanden, so leicht. Er liegt da, als wolle er die Erde zerdrücken, so schwer. Will man seine Müdigkeit erzählen, lächelt er sich gerade flimmernd heiter davon. Möchte man aber dieses Lächeln weitererzählen, wich es schon längst einem stieren, ernsten, uneinholbar traurigen Blick ins Wesenlose. Und er, Jens Harzer als Raskolnikow, bewegt sich in einem Raum, der die Realität erst noch vor oder schon hinter sich hat. Über den gesamten Rundhorizont zieht sich schemenhaft eine braunfleckige farbverwischte Landschaft hoch, als spiele sich alles in einem Krater ab, in einem Bewusstseinsloch. Feuer brennen. Pferdekadaver glotzen. Eine rote Fahne wird hängen, dies Zeichen des Kommenden bei einer Totenfeier. Wir blicken auf die Bühne wie in eine dunkle Tiefgarage der geparkten Albträume, hinten glänzt gelb eine breite Lichtscharte; das Ganze könnte auch die Leinwand eines großen Kinosaales sein, in dessen letzter Reihe wir sitzen. Dann wieder zeigt uns ein Wohn- oder Büroraum seine kahlen, fahlen, hohen Wände, aus denen übergroße Türen klappen, die doch keinen Ausgang zeigen; Türen und Stuhlreihen expressionistisch verkantet und in Schräglagen nach Art der Doktor-Caligari-Welt. Ein Gazevorhang trennt uns von der Bühne, taucht die Aufführung in ein diffuses, nebelnahes Licht, in Trübung und Unwirklichkeit; immer möchte man, dort hinauf sehend, sich einen Schleier von den Augen wischen. So also taucht etwas auf, undeutlich, oder es verschwindet gerade, immer halb Licht alles und immer halb Schatten.

Student Raskolnikow mordet zwei Menschen, weil er sich auserlesen fühlt. Kriminalfall. Psychostudie eines Mörders, der aus kaltem Selbstbewusstsein mehr und mehr von den Zwingkräften der Offenbarungsnot in die Selbstpreisgabe getrieben wird. Was nützt ein Gedanke, von dem die Welt nichts erfährt! Andrea Breth (Bühne: Erich Wonder, Musik: Bert Wrede) inszenierte im vergangenen Sommer »Verbrechen und Strafe« nach dem Roman Fjodor Dostojewskis für die Salzburger Festspiele, nun erlebte diese fünfstündige Aufführung ihre Deutschlandpremiere, als Gastspiel zur »Spielzeit Europa«, im Haus der Berliner Festspiele. Aus »Schuld und Sühne« ist, nach der vielbeachteten Neuübersetzung von Swetlana Geier, »Verbrechen und Strafe« geworden – wie es im Dostojewskischen Original heißt –, eine Verhärtung sozusagen der Verhandlungsmasse. Schuld, Sühne: Was ethische Kategorien der Selbstbewertung und Selbstreinigung waren, das gerät in Breths Version gleichsam unnachgiebiger, nüchterner, unabweislicher in den Zugriff der Gesellschaft, die mit klaren Gesetzen hantiert, gegen einen Verbrecher, der nur eigener Normsetzung zu folgen gewillt ist. Rasch fallen in dieser Inszenierung die entscheidenden Worte: Freiheit, Macht des eigenen Willens, Gewissen. Aber was diesem Raskolnikow, einem Lieferanten intellektueller Leidensmomente am Flachniveau der meisten Menschen, als Begründung dient, um seine Bluttat von niedrigster Verwerfung freizustellen, das schabt sich ab an der robusten Widerständigkeit eben jener blödderben, lausigen Menschenwelt. Er muss erkennen, dass sein Fieber nicht ausreicht, um den Mittelpunkt seines eigenen schäbigen Interesses so beglückend umzudeuten, als stehe er in Mittelpunkt und Dienst einer höher gestellten Welt. Wir sehen einen Menschen zum Verbrecher werden, weil er eine Idee hatte, und Angst vor jeder höheren Idee wird plausibel. Wir sehen einen Verurteilten, der seine Strafe erneut mit einer Idee, dem Glauben, übersteigt und ihr also entkommt, und auch das ist plausibel.

Breth schafft betörende, fordernd symbolische Bilder. Menschen wie Diener einer gespenstischen Gleichnis-Malerei, sie sprechen miteinander, und doch sehen, gehen sie aneinander vorbei. Ein Traumspiel, als wolle Andrea Breth in den Symbolismen eines Tarkowski aufgehen. Es findet ein rücksichtsloser Rhythmuswechsel statt, mal blitzen Metaphernfetzen auf, gefolgt von ausladenden, psychologisch durchfeinten Dialogen. Mitunter ist die Szene nur ein sekundenlanger Spot, ein Satz, ein Körperbild, die Sequenzen getrennt durch Dunkel, aus dem immer wieder Scheinwerfer gegen das Publikum strahlen. Jens Harzer, mit Wollmütze, ist großartig, ein fühliger Zyniker, der sich als Opfer seines ungesättigten Selbstbewusstsein erkennt, ein fast pfiffig zu nennender Selbstausgräber, der das Nichts entdeckt und sich nur immer in seinen Wünschen nach Alleinsein tierisch menschlich ins Brüllen verliert. Die stille schöne Sonja (Birte Schnöink), ein Adel an gütiger Einfalt, begleitet ihn ins Straflager, Raskolnikows Glaubensmensch, und für jene Mürbung durchs tödliche Immergleiche, das dieser Glaube überwinden muss, fand Breth das Bild dreier Eimer – Raskolnikow kippt das Wasser darin um und um, bis alles verschwappt ist, aber die Maschine Mensch füllt hechelnd weiter um und um ...

Udo Samel ist Untersuchungsrichter Porfiri, der Raskolnikow in die Enge treibt: ein knorrig bohrender Listbolzen, der seine eiserne Kraft hinter einer Geduld verbirgt, die so unermesslich scheint, dass sie wohl sogar das Licht vergessen könnte, das alles an den Tag bringt. Sven-Erich Bechtolf ist als Gutsbesitzer ein schillernd ekelhafter Galan des Frauenhasses, der mit kecker, schlieriger Verdorbenheit in den Selbstmord tänzelt. Und Wolfgang Michael gibt mit knochendürrer Verklemmtheit einen fiesen Hofrat.

Vor einiger Zeit hatte Frank Castorf »Schuld und Sühne« inszeniert. Hatte er eine erschütternd aufgekratzte Reise ins Seelenchaos unternommen und dem Roman Dostojewskis gleichsam erlaubt, sich über der Inszenierung aufzuschäumen wie eine gigantische Welle Stoff, die alle Beteiligten auf der Bühne und im Publikum ins Taumeln warf und schließlich alle verschlang, und war daraus doch eine lebendig klopfende, schmutzig tobende Gedanken- und Gefühlsüberwältigung geworden, so zelebriert Andrea Breth eine bedeutungsschwere Messe der Verlorenheit – die bei allem Rausch aus dämonischem Bewusstsein und triebigem Instinkt doch genau zirkuliert bleibt. Wo Castorf hochkochen und hochpeitschen ließ, senkt Breth ihr Blei tief hinab. Castorf warf um sich, Breth stellt hin. Sie malt düster Strich für Strich, der Volksbühnen-Chef wuchtete die Eimer aus Schwärze gegen die Wand, die geduldig auf den Wutanfall unserer fantasierenden Köpfe wartet. In Breths Inszenierung schlägt ein verzweifeltes Herz, auch Castorfs Herz schlug – aber immer zurück. Er verstrickte sich tolldreist, dramatisch, eruptiv im Ideendrama, das weiter und weiter im Hirnraum pocht und also kein Ende findet – Breth schließt ab, findet Ruhe in der segnenden Stärke eines Mitleides, das alle Verachtungs- und also Strafgründe wider den verbrecherischen Menschen überwächst.

So wirkt Breths Arbeit gewollt hermetisch, sie faucht uns nicht an, sie platzt nicht vor psychopathologischen Unfassbarkeiten, sondern bittet in einem fast pädagogischem Einverständnis mit unserer Unerlösbarkeit um den prinzipiell und unrettbar einsamen Menschen – der Moralität und Legalität seines Tuns nie eine bekömmliche Balance zu bringen vermag. Der Arbeit dieser Regisseurin sieht man an, wie sehr sie sich die wunde Seele mit Kunst einreibt, wie rigoros sie Theater in eine Kirche und Text in eine Liturgie verwandelt – Bitterkeit ist das Aroma jedes bedeutenden Stilisten. Dass der Mensch Trost nötig hat, macht ihn arm, dass er kaum Trost geben kann, macht ihn elend, aber dass ihm eine große Bedürftigkeit nach Trost immer wieder nachwächst, das macht ihn in Breths szenischem Traktat reich und lässt, im Dreck, doch seinen Glanz flackern.

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