nd-aktuell.de / 15.12.2008 / Brandenburg / Seite 18

Sehen mit den Händen

Andreas Fritsche

Der kleine Jakob aus Potsdam-Babelsberg leidet an einer Augenkrankheit. Er sieht immer schlechter, erblindet schließlich. Jakob wechselt auf einer Internatsschule für Blinde und Sehschwache in Königs Wusterhausen, erlernt hier die Blindenschrift und schließlich in Karl-Marx-Stadt das Korbmacherhandwerk.

Er erlebt, was Jungen so erleben, träumt von Mädchen, begegnet seiner ersten großen Liebe. Doch seine Krankheit verändert alles, bis er sich mit den Händen ins Leben tastet, mit dem Herzen sieht.

In einem schnörkellosen Stil verfasste Manfred Richter die packende Erzählung »Jakobs Augen«. Sie fußt auf den Lebenserinnerungen von Klaus Mudlagk. Mit ihm hat der Schriftsteller viele Gespräche geführt. Klaus Mudlagk arbeitete bis 1990 als Dreher, baute seiner Familie ein Eigenheim und war ab 1991 erwerbslos, absolvierte mehrere Umschulungen. Er bekam Lungenkrebs und starb im Mai 2004. Hinterlassen hat er Aufzeichnungen mit dem Titel »Wege zum Selbstvertrauen«. Zwei Kapitel daraus sind Richters Erzählung beigegeben.

Der Vergleich der Texte erlaubt einen Einblick in die Arbeitsweise des Autors. So fährt der schon fast vollständig erblindete Mudlagk eines Tages einen anderen Radfahrer über den Haufen. Ihm ist sofort klar, dass er den eigenen Vater erwischt hat. Bei Richters Jakob stellt sich dies erst daheim heraus, als der Vater kommt und ihm wütend eine Ohrfeige verpasst. So gibt es eine Pointe, die in einer rührenden Szene gipfelt, denn der Vater bemerkt erst da, wie schlimm es um seinen Sohn inzwischen bestellt ist.

Jakob trifft auf Lehrer und Lehrmeister, die ihm Gutes tun oder zumindest Gutes tun wollen, aber auch auf einen Sportlehrer – genannt Ratte –, der seine Zöglinge unbarmherzig schleift und schließlich mit der netten Krankenschwester der Internatsschule nach Westdeutschland durchbrennt.

Jakob selbst lässt sich später von seinem Freund überreden, nach Westberlin zu fliehen. Es treiben ihn eine unnötige Gängelung und Eifersucht auf den FDJ-Sekretär. Dabei weiß Jakob um die Fürsorge des Staates für die Blinden. Im Westen ist er nicht gewollt. Der Freund lässt ihn im Stich. Jakob kehrt zurück in die DDR.

Das Buch zeigt, was Literatur im Idealfall leisten kann: Eine Beschreibung der Wirklichkeit mit den Mitteln der Fantasie, die schließlich echter wirkt und wahrhaftiger ist als ein Dokument. Dass man sich die Erzählung auch gut verfilmt vorstellen kann, ist sicherlich kein Zufall. Der an der Babelsberger Filmhochschule ausgebildete Szenarist Manfred Richter arbeitete viele Jahre als fest angestellter Drehbuchautor beim DEFA-Studio für Spielfilme.

Manfred Richter: »Jakobs Augen«, Märkischer Verlag Wilhelmshorst, 169 Seiten (brosch.), 10 Euro, ND-Buchbestellservice, Tel.: (030) 29 78 17 42