nd-aktuell.de / 18.12.2008 / Brandenburg / Seite 17

Helfen, wo einer am Abgrund steht

Unterwegs mit dem Kältebus der Berliner Stadtmission – an der Seite der Ärmsten der Armen

Peter Kirschey
Im Missionskeller: Täglich eine warme Malzeit.
Im Missionskeller: Täglich eine warme Malzeit.

Es war nicht sonderlich kalt in dieser Nacht, doch irgendwie grau, ungemütlich, depressiv. Nur schnell nach Hause, das ist die Losung von Millionen Berlinern in dieser trüben Jahreszeit. Licht, Wärme – wir brauchen das jetzt dringender denn je.

Doch für etwa 10 000 Menschen in Berlin gibt es kein Zuhause, sie leben unerkannt, anonym, irgendwo in einem Parkhaus, unter Brücken oder in verlassenen Abbruchhäusern – Lichtjahre entfernt von der Weihnachtsglitzerwelt. Leben? Nein, sie leben nicht, sie überleben. Nacht für Nacht. Nächte können lang sein, grausam lang.

Für sie ist seit dem 1. November von 21 bis 3 Uhr der Nothilfebus der Berliner Stadtmission unterwegs, um ihnen das Überleben ein klein wenig erträglicher zu machen. Um sie einzusammeln, wenn sie irgendwo im Schlafsack unter einem Strauch liegen, sie an einen sicheren Ort zu bringen.

Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) hat sich Dienstagnacht dem Kältebus angeschlossen. Wahlkampfschau oder PR-Veranstaltung? Kaum. Auf so einem Kurs kann man keine Punkte sammeln, Beifall erstirbt beim Anblick der elenden Gestalten. Alle Politiker sollten da mal mitfahren, um nicht die Bodenhaftung zu verlieren.

Um 21 Uhr startet der Kleinbus von der Lehrter Straße in Moabit, dem Sitz der Mission. Unten im Keller des Hauses werden gerade an die 100 Obdachlose versorgt – Gäste, wie die Ehrenamtlichen hier sagen, Gäste und nicht Hilfsbedürftige, obwohl viele Hilfsbedürftige, von Alkohol gezeichnete, kranke, geschundene Gestalten dabei sind. Es werden von Jahr zu Jahr mehr, und es sind immer mehr Frauen. Das Geld, das der Bezirk zuschießt, reicht für 60 Obdachlose, es kommen in dieser Nacht 110. Demnächst, wenn es kälter wird, werden es 150 sein, die dann hier auf den Holzbänken schlafen.

Willi ist so einer. Willi, 36 Jahre, keine Familie, keine Freunde, von der Sucht schwer gezeichnet. Alles, was er besitzt, ist in zwei Plastetüten verstaut. Die liegen jetzt vorn im Regal am Eingang, dort, wo man alles abgeben muss, wenn man hier rein will: Waffen, Stoff, Spritzen und Alkohol. Es herrschen klare Regeln. Keine Gewalt, kein Alkohol, keine Waffen. Morgen früh wird er alles wiederbekommen. »Ich bin hier zufrieden, fühle mich wohl«, sagt er – und kommt jeden Tag im Winter. Eine Schutzbehauptung. Selbstbetrug, um zu begründen, warum man noch lebt. Nach einer Weile sagt Willi dann doch: »Eine eigene Wohnung, eine kleine Beschäftigung, nicht nur abhängig sein von der Milde anderer, das erhoffe ich mir schon.«

Der Kältebus ist auf Tour, stoppt am Bahnhof Zoo. Am Steuer sitzt Marie-Therese Reichenbach, Sprachstudentin. Aus dem Erzgebirge ist sie nach Berlin gekommen. »Fünf bis zehn Orte will ich ansteuern, da vermute ich hilfsbedürftige Obdachlose«, sagt Reichenbach. Jede Nacht ist es anders, man weiß nie, was einen erwartet, woher der Hilferuf kommt. Diesmal kommt er aus dem Polizeiabschnitt 36, Mariendorf. Eine hilflose Person liegt hier rum, die Polizisten wissen nicht, was sie machen sollen. »Wir kommen«, verspricht Marie-Therese.

Pavel aus Szczecin, 54 Jahre, steht an der Essenausgabe am Bahnhof. Er erzählt und erzählt. Der Alkohol macht die Zunge schwer. Viele wollen, dass man ihnen einfach nur zuhört, sie wahrnimmt als Menschen, die der Sprache mächtig sind. »Ich war Unternehmer«, sagt er. Doch dann hätten ihn seine Mitarbeiter betrogen. Er habe alles verloren und sei hier am Bahnhof Zoo gestrandet. Pavel erzählt und Marie-Therese hört geduldig zu, bietet Hilfe an.

Doch plötzlich schlägt die Stimmung um, Pavel rastet aus, wird wild, beschimpft sie auf das Übelste, will ihr an den Kragen. Er ist nicht mehr zu bändigen, andere Obdachlose gehen dazwischen, beruhigen ihn. Irgendetwas hat er in den falschen Hals bekommen. Geschundene Seelen ticken anders. Geduldig lässt Marie-Therese die Bösartigkeiten über sich ergehen. Man braucht mehr als starke Nerven für so ein Ehrenamt. Zeit für lange Betroffenheit ist nicht, der Bus muss weiter. Warum tut sich die junge Frau das an? »Helfen ist eine wunderbare Sache, es tut mir gut und den anderen auch.«

»Wir nehmen alle mit«, sagt sie, »egal wie wir sie vorfinden, ob im eigenem Erbrochenen oder die Hosen vollgenässt, jeder bekommt Hilfe, niemand wird abgewiesen.« In der Stadtmission bekommen sie zu essen, Kleidung und medizinische Betreuung. Das Wichtigste aber ist: Sie sollen die Hilfsangebote annehmen, um dem Teufelskreis zu entrinnen und wieder in die Zivilisation zurückzufinden. Eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Doch Maria-Therese und die anderen Helfer versuchen es immer wieder – Nacht für Nacht.

Bahnhof Zoo: Am Fenster gibt es Brot und Tee, der Strom der Hungrigen reißt nicht ab.
Bahnhof Zoo: Am Fenster gibt es Brot und Tee, der Strom der Hungrigen reißt nicht ab.