Instabilität als produktive Kraft

Im ökologischen Gleichgewicht konserviert die Natur den Mangel

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.
Ähnlich wie in der Politik streben Menschen auch in ihrer natürlichen Umwelt nach stabilen Verhältnissen. Denn sie befürchten, dass alles Instabile den Keim der Zerstörung in sich trägt. Der Zoologe Josef Reichholf hält dagegen: Zerstörung sei häufig schöpferisch und notwendig, damit der Mensch nicht in eine ökologische Sackgasse gerate.

Eigentlich ist es seit Charles Darwin eine Binsenweisheit: Evolution kann nur stattfinden, wenn sich in der Natur etwas verändert. Als glühender Anhänger Darwins sah das auch der deutsche Biologe Ernst Haeckel so. Doch als dieser 1866 die Ökologie als Wissenschaft begründete, prägte er zugleich die Vorstellung vom »Haus der Natur«, die bis heute dazu dient, den ökologischen Ist-Zustand als besonders erhaltenswert zu preisen.

Eine solche Vorstellung könne jedoch leicht in die Irre führen, vor allem wenn es um globale Probleme gehe, warnt der Münchner Zoologe Josef Reichholf in seinem neuen Buch »Stabile Ungleichgewichte«. Darin führt er als Beispiel den tropischen Regenwald an, der zu den letzten und fraglos schützenswerten Naturparadiesen der Erde zählt und der Millionen von Tierarten beherbergt. Gleichwohl ist eines verwunderlich: In Amazonien etwa leben nur wenige Menschen innerhalb jener grünen Landschaften, und das nicht erst seit heute. Als die Spanier im 16. Jahrhundert in Südamerika eintrafen, fanden sie das kalte Hochland der Anden dicht besiedelt vor, während die Portugiesen in Brasilien auf einen riesigen, fast menschenleeren Tropenwald stießen.

Genauer besehen ist der Amazonas-Regenwald ein relativ geschlossenes Ökosystem mit einem nahezu perfekten Recycling von Nährstoffen. Dass hier kaum Menschen leben, hat einen einfachen Grund: Ökosysteme wie der Regenwald produzieren auf ihren kargen Böden keine Überschüsse. Infolge dessen wird die Fauna Amazoniens von Termiten und Ameisen dominiert. Überhaupt ist der Zusammenhang zwischen Stabilität und Artenvielfalt hier anders, als mancher vielleicht denkt: Zwar gibt es ungeheuer viele Tierarten, von diesen aber in der Regel nur relativ wenige Exemplare.

Die bevorzugten Siedlungsräume des Menschen liegen mithin nicht in feuchtwarmen Waldgebieten, sondern dort, wo auf mineralstoffreichen Böden eine intensive Landwirtschaft möglich ist: in den gemäßigten Klimazonen. Ökologisch betrachtet sind hier die Verhältnisse häufig instabil. Reichholf kommt deshalb zu dem Schluss, dass ökologische Stabilität auf Dauer kein erstrebenswerter Zustand sei. Denn wo in der Natur ein stabiles Gleichgewicht herrsche, herrsche auch Mangel. Und in einer Umwelt des Mangels könnten Milliarden von Menschen auf der Erde künftig nicht überleben. Zwar sind, mit Verlaub gesagt, Reichholfs eigene Zukunftsvisionen etwas dünn. Aber seine Analyse der gegenwärtigen Probleme der Ökologie ist brillant, und sie steckt voller origineller Ideen, die es wert sind, auch in der Umweltpolitik stärker beachtet zu werden.

Josef Reichholf: Stabile Ungleichgewichte. Die Ökologie der Zukunft. Suhrkamp Verlag, 139 S., 10 EUR.


Lexikon - Gleichgewicht

Ein Begriff aus der Systemtheorie, der als »ökologisches Gleichgewicht« in die Umweltforschung übernommen wurde. Er steht für einen Zustand, in dem trotz ständiger Schwankungen der Umweltfaktoren ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen den verschiedenen Populationen eines Ökosystems besteht. Als stabil gilt ein Ökosystem, wenn es trotz veränderter Umweltfaktoren im wesentlichen gleich bleibt. Häufig wird das Wort Gleichgewicht im Sinne von stabil verwendet. In diesem Sinne allerdings wäre es das Ende natürlicher Entwicklung.

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