Nachrichten aus dem Elendsviertel

Güner Yasemin Balci führt mit »Arabboy« nach Berlin-Neukölln

  • Lilian-Astrid Geese
  • Lesedauer: 3 Min.

Fast 50 Prozent aller Bewohner der weitgehend von Zuwanderung geprägten Teile von Neukölln beziehen Transferleistungen. 60 Prozent der unter 25-jährigen müssen mit Hartz IV auskommen, 65 Prozent liegen mit ihrem Einkommen unter dem Existenzminimum. Mehr als jeder Fünfte ist verschuldet. Die Kinderarmut in Nord-Neukölln beträgt 70 Prozent. Ein neues Entwicklungsgutachten des Berliner Stadtsoziologen Hartmut Häußermann belegt die Realität eines Berliner Bezirks, in dem Menschen aus 160 Nationen leben. Wer hier geboren wird oder landet hat keine Zukunft, gehört schon mit 15 zur »lost generation«. Wie »Arabboy«, der libanesische Flüchtlingsjunge, den Güner Yasemin Balci in ihrem Buch Rashid nennt. Balci, selbst im Rollbergkiez aufgewachsen, war Jugendarbeiterin in Berlin-Neukölln, bis sie vor der Gewalt und Hoffnungslosigkeit ihrer Klienten kapitulierte.

Die Geschichte: In den 1970er Jahren flieht Rashid mit Eltern und Geschwistern vor dem Bürgerkrieg im Libanon nach Berlin. Er lebt die Bilderbuchkarriere des Einwanderers, der tragisch an einer Gesellschaft scheitert, die Ansprüche hat, doch nur selten die helfende Hand reicht: Schulabbruch, Kleinkriminalität, Gewalt, Drogen, Knast, Abschiebung, Tod. Die Eltern pflegen ihre arabische Tradition und schotten sich von allen Deutschen – und übrigens auch von den türkischen Nachbarn – ab. In ihrer konservativen, von Machokult, arrangierter Ehe und orthodoxem Islam geprägten Kultur ist Rashid ebenso wenig zu Hause, wie in der Mehrheitsgesellschaft. Diese kennt er nur als »Opfer« (Sozialarbeiter, Lehrer und andere »Weicheier») oder »Versager« (Alkoholiker und andere Gescheiterte). Die Staatsmacht begegnet ihm als korrupte Schließer der JVA. Frauen sind für ihn Nutten. Rashid ist unsympathisch, Angst machend und Mitleid erregend.

Balci beklagt, dass das männliche Identifikationsobjekt fehle. Sie habe die Romanform gewählt, schreibt sie im Vorwort, um sich und die Betroffenen zu schützen. Eine spannende, gut geschriebene Reportage wäre aufrüttelnd gewesen! Leider bleibt Balci äquidistant und springt unmotiviert zwischen Jetzt, Früher und Später hin und her. Sie verspricht die Insiderperspektive, doch die Widersprüche hinterfragt sie nicht. Sie erzählt von einer Welt, die nicht nur arabische Jugendliche in den Tod treibt oder zu Killern macht. Man möchte nicht denken, hier sei eine weitere Sozialarbeiterin am eigenen Anspruch gescheitert und arbeite das nun schriftstellerisch auf.

Man mag auch nicht denken, dass ein Text wie dieser Wasser auf die Mühlen der 21,2% Deutschen ist, die, so eine weitere aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, ausländerfeindlich sind. Der Verlag jedenfalls zielt auf ein sensationslüsternes Lesepublikum. Drei Jungs ohne Gesichter mit Kapuzenshirt auf dem schwarzen Cover zieren ein Buch, das als »ein Schock« beworben wird. Mir aber fehlt die Annäherung an Erklärungsversuche. Und die Antwort auf die Frage: Wer ist eigentlich der Adressat? Will die Autorin an die Eltern appellieren, ihre Söhne nicht allein zu lassen? Oder doch an die Kinder: Lieber ein kleiner Imbiss in der Herrmannstraße, als mit wummernden Bässen und geklauten Autos durch den Kiez cruisen und vorgeben, es wäre Miami? Werden die aber das Buch lesen? Im Rollbergviertel und anderen vergessenen Ghettos liest man nicht. Höchstens die Chats der »Arabboys«, die vom Glück träumen und in der Hölle leben.

Mit der eingangs erwähnten Häußermann-Studie in der Hand fordert Neuköllns Bezirksbürgermeister Buschkowsky Geld, damit mehr als die bislang vier Neuköllner Grundschulen zu Ganztagsschulen werden können. Das wäre vielleicht ein Anfang. Ein klitzekleiner zwar, aber besser, als eine verlorene Stadt aufzugeben. Denn bei Kapitulation sind am Ende wir alle Opfer.

Güner Yasemin Balci: Arabboy. Eine Jugend in Deutschland oder Das kurze Leben des Rashid A. S. Fischer Verlag. 286 S., geb., 14,90 EUR.

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