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An Willen fehlte es nicht

Richard Müller und das reine Rätesystem

  • Florian Wilde
  • Lesedauer: 4 Min.

Rechtzeitig zum 90-jährigen Jubiläum der Novemberrevolution legte Ralf Hoffrogge eine Biografie über einen ihrer wichtigsten Protagonisten vor: Richard Müller, einen der Leiter der Revolutionären Obleute. So, wie die Geschichte der Novemberrevolution oft verdrängt und vergessen ist, scheint auch Richard Müller (1880-1943) weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Dabei war er nach dem 9. November 1918 Vorsitzender des Berliner Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte, des provisorisch höchsten Räteorgans und damit formell sogar das Staatsoberhaupt der kurzlebigen »Deutschen Sozialistischen Republik«.

Die Revolutionären Obleute hatten bereits im Vorfeld der Revolution eine wichtige Rolle gespielt. Sie bildeten sich in den ersten Kriegsjahren aus Netzwerken oppositioneller Gewerkschafter des DMV (Deutscher Metallarbeiter-Verband) heraus, in dem auch der Dreher Richard Müller aktiv war. Anfangs vor allem gegen die Burgfriedenspolitik der Gewerkschaftsführung gerichtet, lehnten sie bald auch den Krieg immer entschiedener ab und strebten nach dessen revolutionärer Beendigung. Ab 1917 bereiteten sie sich darauf vor, »mit dem demokratischen Staatsplunder Schluss zu machen und eine Räterepublik nach russischem Muster aufzurichten«, wie sich Müller später erinnerte.

Die Radikalisierung der Obleute zeichnet Hoffrogge anschaulich nach. Anders als die Spartakusgruppe oder die USPD traten sie nicht öffentlich in Erscheinung, sondern weiteten ihr Vertrauensleute-Netzwerk lange Zeit klandestin aus. »Überhaupt waren sie eher auf Aktionen ausgerichtet, auf aufklärende Propaganda oder Theoriearbeit, wie bei der Spartakusgruppe üblich, legten sie wenig Wert. Ihr Aktionsfeld war die Fabrik, ihre Aktionsform der politische Generalstreik.« Erstmals in Aktion traten sie 1916 bei den Streiks gegen die Verurteilung des Kriegsgegners Karl Liebknechts zu einer Zuchthausstrafe. Bei den Massenstreiks im April 1917 und im Januar 1918 spielten sie eine zentrale Rolle – weiterhin aber, ohne unter ihrem Namen aufzutreten. Einer breiten Öffentlichkeit wurden sie erst während der Novemberrevolution bekannt. Diese hatten sie in Berlin gemeinsam mit der Spartakusgruppe vorbereitet. Das Verhältnis zwischen den beiden Organisationen war jedoch alles andere als spannungsfrei. Erst als die Revolution am 8. November fast das ganze Reich erfasst hatte, konnten beide Gruppen sich auf einen Aufstand einigen. Dieser fegte am 9. November die Monarchie beiseite und verwandelte Deutschland formell sogar in eine sozialistische Republik.

Auf Initiative Müllers wurde für den folgenden Tag eine Versammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte im Zirkus Busch in Berlin einberufen. Die Mehrheitsverhältnisse waren für die Obleute aber unglücklich: Die SPD hatte ihren ganzen Apparat in Bewegung gesetzt, um die Wahl ihrer Anhänger sicherzustellen. Zwar gelang es den Obleuten, die Wahl Müllers zum Vorsitzenden des Groß-Berliner Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte durchzusetzen. Die eigentliche Macht lag aber im sozialdemokratisch dominierten Rat der Volksbeauftragten. Der Vollzugsrat führte ein Schattendasein.

Als der Reichsrätekongress im Dezember 1918 für eine Wahl zur Nationalversammlung votierte, zeichnete sich die Niederlage des Rätegedankens bereits ab. Müller versuchte, diese Entwicklung aufzuhalten, agierte dabei aber oft unsicher und unglücklich, wie Hoffrogge aufzeigt. Müller selbst schrieb später: »Meine Freunde und ich haben versucht, die Revolution zu sichern. An unserem Willen hat es nicht gefehlt. Aber die Verhältnisse waren stärker als wir. Auch heute noch … sind alle politischen Fragen letzten Endes Machtfragen.« Ausgehend von den Erfahrungen der Räte in der Novemberrevolution entwickelte er das Konzept eines »reinen Rätesystems«. Dies war ein Versuch, eine demokratische Gesellschaft jenseits des Parlamentarismus zu entwerfen. Diese Konzeption ist auch heute noch interessant, urteilt Hoffrogge. Ihr Vorzug sei, dass »Planwirtschaft und Selbstverwaltung nicht als Gegensatz gedacht werden, sondern die reale Selbstbestimmung der Arbeitenden Ausgangsüberlegung ist«.

Müller engagierte sich in der Folgezeit in der Betriebsrätebewegung, wurde Anführer der linken Opposition im DMV und stieß Ende 1920 zusammen mit dem linken Flügel der USPD zur KPD. Dort leitete er die Reichsgewerkschaftszentrale. Nach Differenzen über den Kurs der Partei wurde er jedoch Anfang 1922 aus der Partei ausgeschlossen. Er betätigte sich anschließend als Historiker der Novemberrevolution, über die er ein dreibändiges Werk vorlegte, um dann – offensichtlich politisch frustriert als Bauunternehmer tätig – wieder im Dunkel der Geschichte zu verschwinden. Zumindest in dessen Lebensjahre 1916 bis 1925 etwas Licht gebracht zu haben – dieses Verdienst gebührt Ralf Hoffrogge.

Ralf Hoffrogge: Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution. Reihe »Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus«, Bd. VII. Karl Dietz Verlag, Berlin 2008. 240 S., geb., 19,90 EUR.

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