Schon einmal hat Rita May, geboren 1948 bei Chemnitz, einen Coup gelandet. Fünf knackige junge Männer ließ sie nackt durch die Tristesse der einstigen Dimitroffstraße marschieren und beobachtete sie dabei mit ihrer Kamera so unbefangen, als hielte sie Alltag fest. Unter dem Titel »Neues Deutschland« machte jenes Foto nach der Wende in ganz Neudeutschland Furore. Dem Thema Akt ist sie über die Jahrzehnte treu geblieben, die aktuelle Ausstellung in der Galerie Ina Köhler erhebt den Mann gar zum »Engel«.
Weil aber niemand genau weiß, wie jene fernen Wesen ausschauen, sind der Fantasie Tür und Tor geöffnet. Auf der einen Längswand des Raums hängen in kleineren Farbformaten Mays Angebote, und die sind erstaunlich vielfältig. Gleich am Eingang lehnt sich träumend ein Nackter mit wehendem Blondhaar und gekerbtem Gesicht an schwarzen Plüsch wie an einen nachtdunklen Flügel, an dem bewusst noch das Kaufschild haftet: Auch Engel haben ihren Preis. Als verschmitzt lächelnde Diva mit Punktekleid, weißen Flügeln und Samtdraperie inszeniert May daneben einen fülligen Zeitgenossen auf einen Hocker so, dass seine drallen Oberschenkel ins Bild rücken.
Auch viele der weiteren Fotos bedienen nicht das Klischee vom ätherischen Flugwesen. Da verschwebt vor einer Suite von Durchgängen auf zerbröselndem Hinterhof ein fast Nackter unscharf ins Ungefähre. Weiß hüllt auch den ein, den es fröstelnd und ratlos zwischen Auto und Gründerzeitsäulen in eine Welt aus Abfall verschlagen hat. Im Gleimtunnel sei das aufgenommen, weiß Ina Köhler, deren auf Fotografie spezialisierte Galerie erst im Mai geöffnet hat. Wie die Welt nicht nur aus Menschen mit Idealmaßen besteht, so auch nicht Mays Engelskosmos. Neben dem Engel mit Igelschnitt finden sich ebenso handfeste Typen mit Schlagring, Tätowierung, prallen Muskeln vor weißen Feder- oder plissierten Pappflügeln. Einer breitet am See betend seine Hände aus, ein anderer rankt auf einem Säulenstumpf den Leib, als sei er tanzende Mänade.
Wo May dennoch Klischee aufgreift, gelingen ihr Porträts von fast schmerzlicher Schönheit. Der Kopf eines Mulatten, mit weißem Gewirk um die verletzlichen Schultern, löst sich ins Schwarz des Hintergrunds auf. Ein Holzgitter versperrt einem Jungen mit bohrend fragendem Blick den Zugang in eine andere Welt. Den wohl treffendsten Topos Engel hat die Natur selbst geschaffen: In eine zweiflügelige Baumwurzel braucht die Fotografin ihr bloßes Modell nur noch hineinzukomponieren. Doch auch Witz ringt sie dem Thema ab, etwa wenn sich auf einem Feld Bürger anstellen, um dem Engel ihren Löffel abzugeben.
Die zweite Längswand ist steinernen Engeln vorbehalten, wie May sie auf Friedhöfen zu Berlin, Hamburg, Mailand oder Polen erstöbert hat. Weinende, klagende, ruhende, kopfstützende Putten blicken pathetisch und pummelig gen Himmel. Weit schwingt ein großer Todesbote seine Flügel aus, einem zweiten scheint voll Hoffnung die Sonne zwischen Gefieder und Kopf hindurch.
Bis 22.1., Mi.-Sa. 11-18 Uhr, Galerie Ina Köhler, Husemannstr. 27, Prenzlauer Berg, Telefon 81610152, www.inakoehler.de[1]
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/142267.verletzliche-schoenheit.html