Vier Generationen Li in einem Wohnhof

Spät besannen sich Behörden und Bewohner Pekings auf den Wert der Altstadt mit ihren Hutongs

  • Anna Guhl, Peking
  • Lesedauer: 4 Min.
Altstadtgasse nahe dem Pekinger Zentrum
Altstadtgasse nahe dem Pekinger Zentrum

Der alte Herr Li ist überglücklich. Pünktlich zu seinem 90. Geburtstag wurde die Sanierung des alten Wohnhofs der Familie beendet. Vier Generationen wohnen von nun an in den acht Räumen des wieder hergerichteten Vier-Seiten-Hofes (Siheyuan) mitten in Peking. Fast wie in alten Zeiten, erinnert sich Urgroßvater Li, nur viel schöner. Zwar blieben die alten Strukturen der Gebäude erhalten, auch die Farben wurden nach dem ursprünglichen Original ausgewählt, doch in den Zimmern fehlt es nicht an Komfort: moderne Sanitär- und Heizanlagen sowie dichte Fenster gehören ebenso dazu wie die gemütlich wirkende Inneneinrichtung.

Herr Li führt die jungen Leute nicht ohne Stolz durch die Zimmer. In das Haus hat er nicht nur sein ganzes Vermögen investiert, sein Leben ist mit dem »neuen« alten Zuhause auf das engste verbunden. Und ein bisschen widerspiegeln seine Erfahrungen in den letzten fast 60 Jahren auch die wechselvolle Geschichte der für das alte Peking so typischen flachen Siheyuan (Vier-Seiten-Höfe) in den schmalen Hutongs (Gassen) rings um den Kaiserpalast im Zentrum der Stadt.

Als Herr Li seinen Wohnhof zur Gründungszeit der Volksrepublik erwarb, gab es in Peking mehr als 500 000 privater Höfe in rund 3000 Gassen. Vielfach ging der Grundriss der Hutongs noch auf die Zeit der mongolischen Fremdherrschaft im 13. Jahrhundert zurück. Sie wurden damals zwischen den Höfen als Durchgänge von Haus zu Haus angelegt. Das Wort »Hutong« wurzelt im Mongolischen und bedeutet eigentlich »Brunnen«. Früher war der Brunnen stets der wichtigste Punkt einer Siedlung. Aus »Hudun« wurde »Hutong«, was meist auch die Stadt oder ein Lager bezeichnete.

In der Regel bewohnte eine Familie den Hof. Das änderte sich grundlegend zu Beginn der »Kulturrevolution« 1966. Von einem zum anderen Tag wurde Herr Li seinen Wohnhof los und musste sich mit Frau, Kindern und Großmutter in zwei kleinen Zimmern einrichten. Der Rest des Hofes wurde an andere Familien »vermietet«. Wände wurden eingezogen, Fenster verkleinert, selbst der jahrhundertalte Baum im Innenhof musste dem Anbau weichen. Für die Instandsetzung war bereits in den Jahren zuvor nicht viel getan worden. In Chinas neuer Entwicklung war wenig Platz für die Erhaltung alter Wohnbauten. Neue und breite Straßen, mehrstöckige Wohnhäuser brauchte das Land. Die Bürger wurden nicht viel gefragt. Sie mussten »mit der Zeit gehen« und machten pausenlos Revolution.

Erst mit Reform und Öffnung Ende der 70er Jahre keimte wieder Hoffnung. Aber auch die neue Zeit wollte zunächst nicht viel von den alten Wohnhöfen wissen. Waren die meisten doch schon sehr zerfallen. Jetzt wurde westlich modern gebaut: Villenviertel im Stil englischer Landhäuser oder mediterraner Sommersitze entstanden in den Vororten Pekings. Zwar wurde das alte Wohneigentum auf Beschluss der Stadtregierung 1984 wieder an die ehemaligen Besitzer überschrieben, doch die Mieter in den Höfen durften bleiben. Also konnten die Gebäude auch nicht erneuert werden. Die Höfe verkamen weiter, und mit ihnen verschwanden viele alte Gassen. In den 90er Jahren fielen insgesamt 350 Hektar altes Peking dem Abriss zum Opfer – zugunsten des Baus breiter Magistralen und vieler moderner Wolkenkratzer, die Pekings Stadtbild heute bestimmen.

Doch mit wachsendem Reichtum begannen Führung und Gesellschaft umzudenken. 2002 wurden auf Beschluss der Stadtregierung 25 Gebiete im alten Zentrum »denkmalgeschützt«. Endlich, atmeten alte Pekinger wie Herr Li auf, denn es wurde höchste Zeit. Lediglich 500 alte Gassen sollen noch bestehen, die zur Erhaltung und zur Sanierung bestimmten Wohngebiete machen lediglich 17 Prozent der früheren Altstadt aus.

Seither sind Stadtregierung und Einwohner gemeinsam am Werk. Nicht immer geht es reibungslos voran, wie die Ereignisse in der Dongsibaqiao östlich des Kaiserpalastes zeigen. Die alte Gasse sollte trotz Denkmalschutz mit Genehmigung von höchster Stelle abgerissen werden. Doch die Anwohner protestierten – mit Erfolg. Ihre Gasse blieb bestehen.

Wenige Monate vor den Olympischen Spielen legten Pekings Stadtväter selbst »Hand« an. Auch das alte Peking sollte sich im Sommer 2008 in neuem Glanz präsentieren. Umgerechnet 25 Millionen Euro ließ sich die Stadt die Sanierung von 40 Gassen und knapp 1500 Wohnhöfen kosten. Die aufwendigste und umfassendste Altbausanierung in der Stadt seit Gründung der Volksrepublik. Knapp 10 000 Familien konnten sich über ihr neues schönes Zuhause freuen.

Es ist nicht immer der alte Familienbesitz wie bei den Lis, an dem die Bewohner festhalten. Die langjährige Nachbarschaft und die Nähe zum Stadtzentrum, oftmals aber auch der Mangel an Geld, das erforderlich wäre, um sich irgendwo ein neues Zuhause zu schaffen – auch das hält die Leute weiter in den engen Gassen. Sicherlich, es gibt immer noch viel zu tun. Die vielen Stromzähler an den Eingangstüren verweisen auf die Wohnraumenge und die öffentlichen Toiletten um die Ecke auf den Mangel an Komfort. Wer heute zu Fuß oder mit dem Rad in den Hutongs von Peking unterwegs ist, kann den ursprünglichen Gassenalltag noch erahnen und meint beim Anblick manches verfallenen Gebäudes, die Zeit sei stehengeblieben. Doch es regten sich immer mehr Engagment und Initiative, vor allem dort, wo die Eigentumsverhältnisse eindeutig geklärt sind.

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