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Unsere Zeit

DDR-Fotografien von Roger Melis in Nordhausen

  • Hanno Harnisch
  • Lesedauer: 3 Min.
Chemische Werke Buna, Ammendorf, 1975.
Chemische Werke Buna, Ammendorf, 1975.

Erinnerung braucht Bilder. Selbstgefertigte aus Familienalben oder Brigadetagebüchern. Und sie benötigt Ansichten von anderen Menschen. Solche Fremdbilder sind gut, wenn der Betrachter sagt, genau so war es, ich erkenne mich wieder, auch wenn das auf dem Bild ganz andere Menschen sind. Genau so war es am 1. Mai. So hat mein Parteisekretär auch geguckt, oder meine Kohlenträger.

In zwei Etagen einer ehemaligen Fabrikantenvilla wird in trautem Einklang mit einigen verbliebenen Stilmöbeln regelmäßig Kunst ausgestellt. Die Nordhäuser Kulturleute hatten eine gute Hand, zu Beginn des Jubiläumsjahres 2009 in ihrem Haus genau solche Fotos zu zeigen, die Erinnerung zu einem Vergnügen werden lassen. »In einem stillen Land – Fotografien aus der DDR«, so der Ausstellungstitel dieser gut 50 Schwarzweiß-Bilder von Roger Melis (68). Wenn auf seinen Bildern die offizielle DDR zu sehen ist, dann »ohne entlarvenden Lärm« (Christoph Dieckmann).

Auf einem Bild aus dem Jahre 1965 rauchen drei Armisten am Rande der Maiparade und spielen Skat. Die Panzer am Bildrand werden zur Nebensache. Melis war oft bei Paraden unterwegs. 1969 fotografiert er zwei Jungen, die – nicht ohne Stolz – überdimensionale Ulbricht-Porträts am Stiel schleppen. 1978 sehen wir dann, wie das komplette Politbüro – jeder auf große Leinwand gemalt – an der von der Tribüne an der Karl-Marx-Allee winkenden Parteiführung vorbeigetragen wird. Das jüngste Bild der Ausstellung vom Spätherbst 1989 zeigt eine friedliche Demonstrantenschar mit Schärpen und Tüchern »Keine Gewalt«.

Beim Betrachten der Bilder des Meisterfotografen Melis kann man das Wesen des verschwundenen Landes spürbar atmen. Eine Mischung aus »Selbstachtung und Scham, Mut und Hoffnungslosigkeit« (Birk Meinhardt) ist auf seinen Bildern aus der Arbeitswelt zu sehen: Kraftfahrer schreiben gewissenhaft ihre Stunden; Gewerkschaftsfunktionäre besichtigen einen Betrieb in Prenzlau; eine Versammlung in Buna schwankt zwischen Spannung und Langeweile; eine junge Parteitagsdelegierte redet im Kraftwerk Vetschau an ihren Kollegen vorbei. Was denkt der Parteisekretär aus Schwedt unter seinem Leninbild? Fotos, »von denen jedes eine Shortstory ist« (Christoph Hein).

Auch ein »Neues Deutschland« habe ich gefunden. Es lugt frech aus der Tasche des Dufflecoats von Wolf Biermann, der 1975 vor dem Eisenadler an der Weidendammer Brücke von Melis als »preußischer Ikarus« abgelichtet wurde. Jeder erinnert sich anders.

Wer es nach Nordhausen schafft, vorbei am Kyffhäuser Barbarossa und an Tübkes Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen, entlang auf dem neuen »Verkehrsweg der Deutschen Einheit«, der A 38, auf den stürmt deutsche Geschichte aller Zeiten ein. Der Blick von Roger Melis auf die DDR kann da den eigenen Rückblick schärfen, bei all dem Getöse ringsrum. Wer es nicht schafft – alle diese Bilder (und noch viel mehr) gibt es auch als Buch (Lehmstedt-Verlag Leipzig, 192 Seiten, 24,90 Euro).

Im Gästebuch der Ausstellung las ich den Eintrag von »W. & E. Gösel«: »Von einer stillen Zeit konnte damals keine Rede sein. Aber sehr gelungene Momentaufnahmen aus ›unserer Zeit‹«.

Kunsthaus Meyenburg, Nordhausen, A. Puschkin-Str. 31, Di-So 10-17 Uhr (noch bis zum 8. 3.)

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