Mit Obama gibt es keinen New Deal

Stanley Aronowitz über die wirtschaftlichen Perspektiven der USA

  • Lesedauer: 4 Min.
Stanley Aronowitz, Dozent für Soziologie und Cultural Studies an der City University of New York, gehört zu den bekanntesten marxistischen Analytikern der US-amerikanischen Gesellschaft. Er hat zahlreiche Bücher über die ökonomischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte sowie die Perspektiven linker, sozialer und politischer Widerstandsbewegungen verfasst und zählte in den 1980er Jahren zu den kämpferischsten Gewerkschaftsführern in der Metallindustrie. Mit ihm sprach Raoul Rigault.
Mit Obama gibt es keinen New Deal

ND: Wie sehen Sie die wirtschaftliche Lage der USA, die häufig mit der Depression der 1930er Jahre verglichen wird?
Aronowitz: Die Wirtschaftskrise ist nur das Symptom der seit 20 Jahren andauernden, tief greifenden Finanzkrise des kapitalistischen Systems in den USA. Die von der Regierung angewandten Mittel dienen lediglich zur Bekämpfung der Symptome. Sie beseitigen weder die Schäden und schon gar nicht die strukturellen Ursachen: eine Wirtschaftspolitik der massiven Deindustrialisierung, der Deregulierung des Marktes sowie der fehlenden Kontrollen von institutioneller Seite. Das hat die Entwicklung seit der Reagan-Ära gekennzeichnet. Die amerikanische Wirtschaft zielte auf die Schaffung von fiktivem Kapital, das mit der realen Ökonomie nicht verbunden war. Die Banken haben jedem Kreditkarten in die Hand gedrückt, der bereit war, den Konsum anzukurbeln. Heute beläuft sich das daraus resultierende Defizit auf 72 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Verschuldung eines erheblichen Teils der Mittelschicht, die zunehmende Abwanderung von Produktionsanlagen aus den USA, die durch eine Dienstleistungsökonomie mit halbiertem Lohn ersetzt werden – all diese Elemente haben das Steuer- und letztlich auch das gesamte Wirtschaftssystem abstürzen lassen.

Die Regierung hat mit 750 Milliarden Dollar interveniert, um das Bankensystem zu retten. Mit welchen Folgen für die Steuerzahler?
Ziel ist es, das Finanzsystem vor dem Bankrott zu retten. Man verfolgt eine monetaristische Politik zulasten der Mittelschicht. Heute leben 37 Millionen Amerikaner unter der Armutsschwelle, ihre Zahl wird wohl auf 50 Millionen steigen. Wir erleben eine Wiederholung der Wirtschaftspolitik in den 1920er Jahren. Folgen sind der Abbau von zehntausenden Arbeitsplätzen in allen Branchen – die Arbeitslosenrate dürfte sich auf elf Prozent erhöhen – sowie ein rasanter Rückgang des Konsums.

Der neue Präsident Barack Obama verspricht, der Deregulierung Grenzen zu setzen. Gibt es wieder einen New Deal?
Obama wird Korrekturen am bestehenden ökonomischen System vornehmen – allerdings zu wenig und zu spät. Das versprochene Projekt stärkerer wirtschaftlicher Planung reicht nicht aus, um den Negativtrend umzukehren.

Sie halten also die Erwartungen jener, die sich eine strukturelle Veränderung der USA-Gesellschaft mit weniger Umweltzerstörung und mehr sozialer Gerechtigkeit wünschen, für illusorisch?
Die USA verfolgen eine monetaristische und keine steuerfinanzierte Politik mit massiven Investitionen in die Infrastruktur, von der viele Teile baufällig sind, oder um die Arbeitslosenunterstützung zu erhöhen, die Gesundheitsversorgung zu verbessern, den Bildungssektor auszubauen, und vor allem keine Politik der Vollbeschäftigung. Ich denke, dass der alte Kurs unter Obama fortgesetzt wird. Das ist eine Wirtschaftspolitik, die auf Richard Nixon zurückgeht: Senkung der Zinssätze, um ausländisches Kapital anzulocken, und Hilfspakete zugunsten der Banken und von General Motors. Das zu ändern, würde bedeuten, das Scheitern des kapitalistischen Systems einzugestehen.

In den vergangenen 60 Jahren ist es gelungen, über eine Ökonomie, die auf fiktivem Kapital basierte, den Verbrauch in exponentieller Weise zu erhöhen. Die Masse hat geglaubt, sie könne auf diese Art ihre essenziellen Bedürfnisse befriedigen. Das ging so weit, dass selbst die linksalternativen Kräfte nicht mehr die antikapitalistische Rolle übernehmen konnten, die ihnen zukommt, weil das im Widerspruch zum globalisierten Eindruck stand, das System würde funktionieren.

Was sollte Obama tun?
Ein neuer New Deal würde eine programmatische Intervention erfordern, das heißt die Investition der kompletten 750 Milliarden Dollar, die jetzt für die Banken ausgegeben werden, in die Infrastruktur. Stattdessen sollen unsere Steuergelder aber dazu dienen, die monetaristische Politik des Systems zu schmieren. Obamas Wahl bringt nach den finsteren Jahren von Bush einen kurzen Windstoß der Erleichterung. Aber ein Demokrat an der Spitze des Landes bedeutet nicht unbedingt eine radikale Opposition zum herrschenden System.

Was führt Sie zu dieser Einschätzung?
Die von Obama ausgewählten neuen Ressortchefs vertreten die Mitte-Rechts-Positionen in der Demokratischen Partei und liegen auf einer Linie mit der einst von Bill Clinton betriebenen Deregulierung. Niemand in den Institutionen drängt auf wirkliche strukturelle Veränderungen, auch wenn es in der Zivilgesellschaft alternative Bewegungen gibt, die sehr aktiv sind.

Aus persönlicher Erfahrung kennen Sie die Gewerkschaften sehr gut. Welche Rolle werden sie künftig spielen?
Die Gewerkschaften marschieren Arm in Arm mit den industriellen Arbeitgebern. Sie sind zur alten Position der Kollaboration mit den Unternehmern zurückgekehrt. Das ist schlicht eine Neuauflage dessen, was in den 1920er Jahren stattfand. Sie haben sich in »Company-Unionism« (gewerkschaftliche Co-Manager – d.R.) verwandelt, wie man damals sagte. Und man sollte auch nicht vergessen: Eigentlich waren z.B. 40 Prozent der Arbeiterklasse im Industriestaat Ohio anfangs für McCain und nicht für Obama!

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