Im Zirkus des Irrsinns

100 Jahre Sixdays in Berlin: Heute beginnt das 98. Berliner Sechstagerennen

Kalt zog die Luft durch die ungeheizte Halle 2 des Ausstellungsgeländes am Zoo, Tausende Berliner tranken ohne Unterlass Bier und grölten dabei den Berufsradfahrern auf der 150 Meter langen Holzbahn hinterher. Dennoch soll am Abend des 16. März 1909 der Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen in seiner Loge von diesem neumodischen Spektakel genauso begeistert wie das »Fußvolk«: Das ersten Sechstagerennen in Europa faszinierte alle Zuschauer .

Tags zuvor hatte August Lehr, 1894 Weltmeister sowohl auf dem Hoch- als auf dem Niederrad, die Startflagge gehoben. Von da an strömten die Berliner in Scharen in die Halle, um jene »schlotternden Lemuren« im »Zirkus des Irrsinns« (zeitgenössische Zeitungsberichte) zu sehen, die sich in Zweiermannschaften ohne Pause 144 Stunden lang über die Bahn quälten. Sixdays, diese Erfindung aus den USA, 1899 erstmals im New Yorker Madison Square Garden gefahren, gefiel ihnen ausnehmend gut.

Nachdem aber keine Deutschen, sondern die Amerikaner Floyd MacFarland und Jimmy Moran gewannen, handelte der Kronprinz – er sorgte für eine Begnadigung des deutschen Radprofis Walter Rütt, der zwar fahnenflüchtig war, aber in den USA schon etliche Sechstagerennen gewonnen hatte. Und Rütt bedankte sich: Er siegte in Berlin 1910, 1911, 1912 zweimal und schließlich im Jahr 1925.

Das Rennen, das ab 1910 im Sportpalast ausgetragen wurde, war schnell legendär. Heinrich Zille betrieb Milieustudien auf den billigen Plätzen, dem »Heuboden«; der Tenor Richard Tauber, der »König des Belcanto«, sang für die feinen Gäste in den Logen wie für die Arbeiter vom Ostkreuz, die im Oberrang feierten. Egon Erwin Kisch beschrieb in einer Reportage die »elliptische Tretmühle«; Berühmtheiten wie Boxer Max Schmeling oder Schauspieler Hans Albers prosteten den Bahnhelden zu und bestaunten, wie Richard Huschke und Franz Krupkat 1924 in der tabak-, bier- und parfümgeschwängerten Luft zum Weltrekord rasten: 4544,2 Kilometer.

1935 verboten die Nazis das wenig tugendhafte Sportspektakel, erst 1949 ging es in der Sporthalle unterm Funkturm mit der 31. Auflage weiter. Fahrer wie der Berliner Otto Ziege wurden im neu errichteten Sportpalast zu Berühmtheiten: im Westen wie auch im Osten Berlins. Nach dem Mauerbau erlebte das Sechstagerennen im Westteil ein stetes Auf und Ab, im Osten war das Pendant, die »Winterbahn« in der Werner-Seelenbinder-Halle, gut besucht. 1990 ging das Rennen im Westteil pleite.

Als Glücksfall erwies sich für die Sixdays die Olympiabewerbung »Berlin 2000«. Die Stadt bekam danach zwar keine Spiele, aber ein neues Velodrom, in dem seit 1997 wieder gefahren und geschwoft wird. Erster Sieger dieser »neuen Sixdays« war 1997 Olaf Ludwig. Seither kommen regelmäßig 75 000 Fans zu den Renntagen.

100 Jahre nach dem ersten Rennen beginnt hier heute Straßenrad-Legende Erik Zabel (38) seine sechstägige Abschiedsvorstellung: der erfolgreichste Profi der vergangenen 15 Jahre, ein Sohn der Stadt. Obwohl Zabel 2007 Doping eingestand, ist er noch immer der beliebteste deutsche Fahrer. Einen »Glücksfall« nennen ihn die Veranstalter. Radfahrer können auch nach 100 Jahren noch mit Gnade rechnen.

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