Brot oder Augentropfen

ALG-II-Bezieher können notwendige Arzneien nicht mehr bezahlen

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.
Auf einer Veranstaltung in Berlin berichteten gestern zwei Betroffene über ihre Probleme, aus dem Hartz-IV-Regelsatz Medikamente zu bezahlen. Nach einer Untersuchung aus den Jahren 2006/2007 des Informationsdienstes Soziale Indikatoren befinden sich etwa 600 000 Menschen in dieser Situation.

»Sozialpolitische Themen interessieren nicht mehr«, flüstert Michael Lange aus Hamburg nach einem resignierten Blick auf die anwesenden drei Medienleute dem neben ihm sitzenden Peter Grottian zu. Der hatte ins Berliner Café »Cum Laude« eingeladen, um zwei Menschen vorzustellen, die immer öfter vor der Wahl stehen, entweder Lebensmittel oder Medikamente zu bezahlen. Für beides reicht der ihnen durch die Hartz-Gesetze zugebilligte Regelsatz von 351 Euro im Monat nicht aus.

Michael Lange aus Hamburg hat eine Tüte Medikamente mitgebracht – Augentropfen, Sprays und Salben, die die Symptome seiner Krankheit lindern. Er leidet am Sicca Syndrom, bei dem aufgrund mangelnder Tränenesekretion die Augen trocken sind. Daraus resultieren eine Fülle von Beschwerden: Reizungen, Rötungen, Bindehautentzündungen, tränende Augen und eine Schädigung der Hornhaut. 126,62 Euro braucht der 57-jährige arbeitslose Diplompsychologe jeden Monat, um mittels Arznei seine Beschwerden wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen. Sie werden von der Kasse nicht bezahlt, weil sie zu den sogenannten nichtverschreibungspflichtigen Medikamenten gehören. Seit 2004 werden die Kosten dafür von den Kassen nur noch in Ausnahmefällen erstattet. Langes Krankheit steht nicht auf der Ausnahmeliste.

Kerstin Koepke aus Mannheim lebt mit zwei chronischen Krankheiten. Sie leidet an Multipler Sklerose, einer Nervenkrankheit, und an Zöliakie, einer Glutenunverträglichkeit. Bei beiden Krankheiten spielt die richtige Ernährung eine entscheidende Rolle. Die Zöliakie erfordert das strikte Einhalten einer Diät, den Verzicht auf glutenhaltige Produkte. Da Gluten in fast allen europäischen Getreidearten enthalten ist, auch in Nudeln, vielen Konserven und Wurst, muss Kerstin Koepke ihre Ernährung auf der Grundlage von speziellen Produkten organisieren, die nicht selten teurer sind als die Produkte im Discounter. Sie bekommt jeden Monat 66,67 Euro zusätzlich für ihren krankheitsbedingten Mehrbedarf, denn bei zwei chronischen Krankheiten wird nur der Mehrbedarf für die höher dotierte an den Betroffenen weitergegeben.

Kerstin Koepke gibt jeden Monat ungefähr 100 Euro zusätzlich für ihre Nahrungsmittel aus und kämpft gegen ihre zuständige ARGE darum, dass diese die zusätzlichen Aufwendungen für beide Krankheiten erstattet. Michael Lange will sich mit seiner Lage ebenfalls nicht abfinden. Er hat sich an alle seiner Meinung nach zuständigen Einrichtungen gewandt. Das Gesundheitsministerium schrieb ihm, dass alles seine Richtigkeit hätte. Die Krankenkassen verweisen auf das Gesetz über die nichtverschreibungspflichtigen Arzneimittel, die nicht mehr erstattet würden. Das Grundsicherungsamt hält sich nicht für zuständig und die ARGE meint, dass die Ausgaben für Arzneien aus dem Regelsatz finanziert werden müssen. Dann müsse er verhungern, kommentiert der Mann verzweifelt.

Peter Grottian vom Berliner Bündnis Sozialproteste ist der Überzeugung, dass die Zahl derjenigen, denen es wie Lange und Koepke geht, die Million übersteigt. Er spricht in ihren Fällen von einer asozialen Zuzahlungspflicht, die zu verantwortungslosen Zuständen führe. Sämtliche Parteien ließen die Bedürftigen im Stich. Weder seien die Hartz-IV-Regelsätze – wie von der SPD versprochen – überprüft worden, noch kämen die Niedriglöhner im Konjunkturpaket vor. Man nehme sie als Konsumenten gar nicht mehr wahr, so Grottian. »Der Zynismus hat stark zugenommen«, resümiert er. Es sei symptomatisch, dass sich sogar die LINKE nur sparsam um diese Gruppe kümmere.

Grottians Fazit: Therapienotwendige verschreibungspflichtige Arznei müsste von den Krankenkassen bezahlt und die Hartz-IV-Regelsätze auf 500 Euro monatlich angehoben werden.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal