Schuhe und Brot – eine Überlebensfrage

Eine neue Ausstellung in Berlin zeigt die Dimensionen von Auschwitz

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 4 Min.
Bis Juli zu sehen: »Schuhe und Brot«, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin, Stauffenbergstraße 13-14.
Bis Juli zu sehen: »Schuhe und Brot«, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin, Stauffenbergstraße 13-14.

»Als ich nach Auschwitz kam, trug ich Sommerkleidung. Die musste ich abgeben, aber die Schuhe durfte ich behalten.« Erinnerungen von Eva Pusztai, die mit 18 im Sommer 1944 mit ihrer Familie von Ungarn nach Auschwitz deportiert wurde. Nur Eva hat überlebt. Auch dank ihrer Schuhe, Korksandalen mit weißem Stoff – »eine Maßanfertigung, weil ich orthopädische Schuhe tragen musste. Ich habe sie getragen, bis sie buchstäblich mit den letzten Fetzen an mir gehangen haben.«

Ein Foto zeigt Eva Pusztai, als sie in ein anderes Arbeitslager gebracht wird. Man sieht junge Frauen mit fast kahl geschorenen Schädeln, in Drillichkleidern und Stiefeln. Außer einer Frau in der viertletzten Reihe. Der Betrachter kann die Fetzen am Fuß erahnen.

Zu sehen ist das Bild in der Ausstellung »Schuhe und Brot«, die gestern vom Internationalen Auschwitz Komitee in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin eröffnet wurde; kurz vorm Holocaust-Gedenktag am 27 Januar. Schuhe und Brot – beides war überlebenswichtig in Auschwitz.

Die Alternative zu Evas Sandalen wären Holzpantinen gewesen. »Diese Kloben waren schrecklich, Fünf Minuten mit nackten Füßen, darin, und schon hat man die ersten Blasen.« Die Folge waren Entzündungen, und die führten zum Tod. Nicht nur von den Grausamkeiten der SS war das Leben der Häftlinge bedroht, auch von den Banalitäten des Lageralltags. Welche Schuhe, wie viel Brot? Davon erzählt Eva Pusztai, wenn sie Schulklassen trifft.

Im Zentrum der Ausstellung stehen deshalb Holzpantinen. Es sind Duplikate. Die Originale sind in der Gedenkstätte Auschwitz zu sehen. Dazu kommen Fotos und Tafeln mit Zitaten von Überlebenden. Gleichzeitig liest der Besucher Kommentare von VW-Lehrlingen über ihren Besuch in Auschwitz. Der Autokonzern schickt seit Jahren Auszubildende in die Jugendbegegnungsstätte Auschwitz.

Die Ausstellung versucht, den Dialog zwischen Überlebenden und jungen Leuten nachzuzeichnen. Die Fragen nach dem Alltag, wie man überleben konnte, unter solch widrigen Bedingungen. Rafael Esrail, der Vorsitzende des französischen Auschwitz Komitee, schlief auf seinen Schuhen und seiner Brotration, damit sie niemand stehlen konnte. Auf einer anderen Tafel steht: »Zehn Freunde haben mir geholfen.« Es ist die Geschichte des sehbehinderten Marian Turski, der mit 18 aus dem Ghetto von Lodz nach Auschwitz kam, zusammen mit Freunden. Auch Brillen waren überlebenswichtig; eine Sekunde konnte entscheidend sein, um das Unheil in Gestalt eines Kapos oder eines SS-Mannes kommen zu sehen. Bei seiner Ankunft wurde Marian niedergeschlagen, die Brille zerbrach. Es gab genügend Brillen im KZ, von ermordeten Juden. Aber sie hatten ihren Preis: drei Tagesrationen Brot. »Das war unmöglich«, erzählt Marian. Aber er war auf seinem Block mit zehn Freunden zusammen. Sie alle sparten sich das Brot ab für eine neue Brille.

Zu sehen ist auch die Reproduktion eines Plakats, das in Auschwitz in den Waschräumen hing. »Eine Laus dein Tod«, steht da in großen Lettern. Der Künstler Mieczyslaw Koscielniak hatte es im Auftrag der SS angefertigt. Einerseits hatten die Deutschen Angst vor Typhus, anderseits teilten sie das Brot sogar auf Latrinen aus, wie aus vielen Berichten hervorgeht, z. B. von Primo Levi: »Sie schütteln die Decken und wirbeln damit stinkende Staubwolken auf, ziehen sich mit fieberhafter Eile an, rennen, erst halb bekleidet, in die eisige Luft hinaus, stürzen auf die Latrinen und in den Waschraum, tierisch urinieren viele im Laufen, nur um Zeit zu schinden, denn in fünf Minuten wird Brot ausgegeben, Brot-Broit-chleb-pane-pain-lecchem-kenyér, dieser heilige graue Würfel, der dir in der Hand deines Nächsten so riesig vorkommt und in der eigenen so klein, dass du weinen könntest.«

Bei der Ausstellungseröffnung sprach gestern Julius Goldstein, ein VW-Lehrling. Er erinnerte sich an seinen Großvater, den KZ-Überlebenden Kurt Goldstein: »Sein Gesicht, wenn er vom Hunger in Auschwitz berichtete und das Wort Brot aussprach: Das Überleben haben ihm und seinen Kameraden im Arbeitskommando in der Kohlengrube in Jawischowitz die polnischen Bergleute ermöglicht: Sie hatten Mitleid, sie brachten Brot, heimlich gaben sie es den Häftlingen, die es teilweise versuchten ins Lager zu schmuggeln.« Die Ausstellung zeigt diese Dimensionen von Auschwitz: den völligen Verlust der Menschenwürde und das Gegenteil – die Möglichkeit, sie zu bewahren.

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