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Skurriles Wohnen

Sasha Waltz & Guests mit »Allee der Kosmonauten«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein köstliches Genrebild von Wohnkultur
Ein köstliches Genrebild von Wohnkultur

Intensive Lokal-Studien standen vor der Uraufführung von »Allee der Kosmonauten«, mit der Sasha Waltz 1996 die Sophiensaele eröffnete. Dazu hatte sich die Choreografin in die Marzahner Plattenbauzentrale begeben. Was ihr dort an Episoden unterkam, vielleicht auch, was von ihrer gerade zu Sensationserfolg geführten »Travelogue«-Trilogie an Material übrig geblieben war, das verarbeitete sie zu einem köstlichen Genrebild von Wohnkultur. Wieder waren es kleine Leute, denen sie in den häuslichen Alltag blickte.

Was Begeisterungsstürme auslöste, Preise errang, verfilmt wurde und weltweit über 150 Vorstellungen erzielte, das nahmen Sasha Waltz & Guests nun zum 15-jährigen Bestehen der Compagnie am Premierenort erneut auf. Waltz ist damit eine der raren zeitgenössischen Choreografinnen mit lebendigem Repertoire. Mehr noch verblüfft, wie zeitlos frisch das 70-Minuten-Stück nach wie vor wirkt.

Einsam schaut ein Mann von seinem hohen Brettersitz an der Zimmerwand auf Batterien von Monitoren und ein Plüschsofa herab. Als das Brett abkippt, steigt aus der Tiefe des Sofas ein Mitbewohner auf, der zu Smetanas »Moldau« aberwitzig steif Sitze und Lehne umturnt. Schläfrig gesellt sich ihm eine fett ausgestopfte Frau mit Brille und Wasser ziehenden Strümpfen bei. Als ein Schatten zu lauter Popmusik tanzt, eskaliert ein Streit bis zur Gewalt. Die kurze Ruhe danach täuscht. Beim Zeitungslesen hebt sich der Tisch, bis zwei nackte Beinpaare sichtbar werden.

Der Junge darunter spielt bald Pferdchen mit dem Vater, das Mädchen verstrickt sich mit dem Brettsitzer immer wieder in ein aggressiv-begehrliches Miteinander. Mutter zerrt einen Sack herein, dem der Vater entsteigt, zum Akkordeon greift, Stimmung herbei spielt. Die Jugend torpediert diese biedere Gemütlichkeit mit dem Kassettenrekorder. Als der Sohn sich am Akkordeon vergreift, straft ihn der Vater mit einem virtuosen Würgeduett. Vater spielt weiter, so zärtlich wie traurig umfangen vom misshandelten Sohn.

Videos von Hochhäusern, Straßen, Trams, Parks kolorieren die Wohntristesse. Vater bringt beim Umbau kommandierend Schwung ins Zimmer. Dazu tragen, schwingen, besteigen, heben, klappen die Anderen Bretter artistisch so unnachahmlich, dass man seine schiere Freude hat. Anschließend tanzen alle russische Hackenabschläge, deren Fröhlichkeit rasch versiegt. Denn Liedzeilen wie »Dein ist mein ganzes Herz« und »Ich hasse Einsamkeit« spotten der Realität. Die Jüngste, aufgezogen wie eine Puppe, tanzt ihren Frust heraus, der Sohn tastet sich unterm bestülpten Kopf vorwärts. Zu einem Medley von DDR-Hits formiert sich der streitende Clan zur Fotopose, aus der er erschreckt ins Publikum aufsieht.

Der Spaß, den Sasha Waltz und ihre Mannschaft beim Erfinden der skurrilen Typen hatten, teilt sich noch heute mit. Die Qualität des Tanzes in diesem originellen, akrobatisch perfekten, dicht gewebten surrealen Tableau bleibt ein beachtlicher Meilenstein weit über den zeitgenössischen Tanz Berlins hinaus.

Bis 25.1., Sophiensaele, Sophienstr. 18, Mitte, weitere Infos unter www.sophiensaele.com

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