Der Streit um den Sergeanten

Russisch-georgischer Konflikt bekommt neue Facetten

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.
Wenn es wirklich Timing war, dann ein perfektes: Just, als der Europarat darüber nachdachte, Russland wie Georgien auf der nächsten Tagung im April das Stimmrecht zu entziehen, buhlten beide um Unterstützung für ihre Position in einem neuen Konflikt.

Es geht um den Sergeanten Alexander Gluchow. Der 21-Jährige gehört zu einer russischen Einheit, die in Südossetien stationiert ist, und hatte am Montagabend seinen Truppenteil verlassen. Laut Tbilissi stellte er sich an der Grenze der georgischen Polizei und bat um politisches Asyl. Medien gegenüber erklärte Gluchow, er habe die »unzumutbaren Bedingungen« in den russischen Armee nicht länger ertragen können. Er habe sich vor Wochen zum letzten Mal gewaschen, müsse hungern und sei geschlagen worden. Das georgische Fernsehen, das die Erklärung ausstrahlte, zeigte seine zerkratzten und mit Frostbeulen bedeckten Hände und die vor Schmutz starrenden Stiefel.

Das russische Verteidigungsministerium indes sprach zunächst von einer Entführung durch die georgischen Geheimdienste. Diese hätten den Soldaten auch zu der Erklärung gezwungen, möglicherweise sogar gefoltert. Gluchow, der in einem Krankenhaus in Tbilissi behandelt wird und von dort aus mit seiner Mutter Galina telefonierte, bestreitet dies. Der Russe, so das georgische Außenministerium, sei völlig frei in seinen Entscheidungen und könne jederzeit zurück. Georgien habe seine Eltern zu einem Besuch eingeladen und sei auch bereit, ein Treffen zwischen Gluchow und russischen Diplomaten zu organisieren. Tbilissi hatte nach dem Augustkrieg im Kaukasus die diplomatischen Beziehungen zu Moskau abgebrochen. Beide lassen sich seither durch die Schweiz vertreten. Deren Botschafter in Tbilissi lehnte es am Mittwoch jedoch ab, Gluchow zu treffen. Die Gründe dafür sind bisher nicht bekannt.

Russland besteht auf Rückführung des Soldaten. Nachdem eine Kommission des Verteidigungsministeriums ermittelt hat, dass Gluchow seine Einheit doch selbst verlassen hat, droht ihm bei Rückkehr allerdings eine Anklage wegen Fahnenflucht. Beobachter in Tbilissi erklären das vor allem mit brisanten Aussagen des Soldaten. Demzufolge wurde seine Einheit schon im Mai nach Südossetien verlegt. Dort hätten Kommandeure den Soldaten gesagt, es würde bald zu Kämpfen mit Georgien kommen. Nach offizieller Darstellung Moskaus waren dessen Truppen am Nachmittag des 8. August in Südossetien eingerückt, nachdem in der Nacht zuvor georgische Soldaten einmarschiert waren, um die Region zurückzuerobern.

Tbilissi will die Protokolle mit den Aussagen des russischen Überläufers jetzt westlichen Außenministerien und dem Europarat vorlegen. Scharf kritisierte das georgische Außenamt auch die Abkommen über den Verlauf der Staatsgrenzen, die Moskau in Kürze mit Südossetien und Abchasien schließen will. Diese Grenzen sind sowohl im Norden – zu Russland – als auch im Süden in Teilen ungeklärt. Georgien beansprucht ein Areal von mehreren Dutzend Quadratkilometern im abchasischen Teil des Schwarzen Meeres, einen Landkreis in Südossetien und inzwischen auch den Roki-Tunnel. Er liegt an der Grenze zwischen Russland und Südossetien und ist gegenwärtig die einzige Verbindung der Republik zur Außenwelt.

Russland, so kremlnahe Duma-Abgeordnete, brauche auf diese Forderung keine Rücksicht zu nehmen, da Moskau die Unabhängigkeit beider Regionen offiziell anerkannt hat. Auf Karten, die das Amt für Geodäsie und Kartografie zum Druck vorbereitet, sind beide als souveräne Staaten dargestellt. Auch verloren ihre Hauptstädte – Zchinwali und Suchumi – dabei das für georgische Ortsnamen übliche i am Wortende.

Georgiens Vizeaußenminister Alexander Nalbandow sprach von Annexion, Bruch des Völkerrechts und neuen Bedrohungen. Dmitri Oreschkin von Forschungszentrum Mercator in Moskau hält einen Waffengang dennoch für eher unwahrscheinlich. Mit dem Skandal um die Karten und den Sergeanten solle vor allem die Öffentlichkeit von der Krise abgelenkt und das »erlöschende Feuer des Patriotismus« neu angefacht werden.

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