Dim Sum und die Enzymkinetik

  • Reinhard und Tom Renneberg, Hongkong
  • Lesedauer: 3 Min.
Vignette: Chow Ming
Vignette: Chow Ming

Südchina ist berühmt für Dim Sum (zu deutsch: »Kleine Herzen«), die leckeren, über Dampf gegarten Teigtaschen. Sie sind gefüllt mit Fleisch, Gemüse oder Meeresfrüchten. Ab und zu treffe ich mich als Professor mit meinen Studenten zum Essen. Natürlich packe ich die Gelegenheit am Schopfe, um über Wissenschaft zu plaudern. Ich fange also an, das Dim-Sum-Essen mit der Enzymkinetik zu vergleichen. Enzyme (Biokatalysatoren) beschleunigen fast alle biochemischen Reaktionen, z. B. unsere Verdauung und die Blutgerinnung.

Sie machen das unterschiedlich schnell – so wie auch wir unterschiedlich schnell die Dim Sums verspeisen. Die nette Sekretärin Louiza neben mir schafft normalerweise nicht mehr als vier pro Stunde. Mit der Maximalgeschwindigkeit (Vmax) von 4 Stück pro Stunde (/h) wäre ihre Kinetik langsam, zumal der rundliche Willis behauptet, er schaffe bis zu 40/h. In der Enzym-Analogie wäre das hocheffektiv. Ich selbst schaffe etwa 10/h.

Und wer erfand die Enzymkinetik? »Michaelis-Menten, 1913 in Berlin«, tönt es im Chor. »Gut gebrüllt – aber Achtung: Das waren zwei!« Der Deutsche Leonor Michaelis (1875-1949) studierte in Berlin, wurde danach Privatassistent des großen Forschers Paul Ehrlich (1854-1915). Von 1906 bis 1922 war Michaelis Chef der Bakteriologischen Abteilung am Berliner Urban-Krankenhaus. Mit einer einzigen wissenschaftlichen Entdeckung 1913 wurde sein Name unsterblich: eine Gleichung, die das zeitliche Verhalten von Enzymreaktionen (von umgesetzten Molekülen zu Produkten) und deren Abhängigkeit von der Substratkonzentration beschreibt.

Michaelis’ Mitarbeiterin war die hübsche Maud Menten (1879- 1960), eine Kanadierin, die auch nur dieses eine Jahr zu seinem Team in Berlin gehörte. Menten studierte Anfang des 20. Jahrhunderts an der Universität Toronto und war die erste promovierte Frau ihres Landes. Allerdings gab es damals in Nordamerika für Frauen kaum Chancen in der Forschung, und so kam sie zielstrebig nach Berlin. Erst 1949, mit 70, wurde sie in Kanada zur vollwertigen Professorin berufen! Berlin war für Maud Menten historisches Glück. Mit zweitem Vornamen hieß sie Leonora – welche Pointe, hätte man die Theorie nach den Vornamen der Entdecker benannt.

Leonor Michaelis ging später nach Japan und von 1929 bis 1940 an das Rockefeller Institute of Medical Research in New York. Dies rettete ihm als Juden wahrscheinlich das Leben.

Auf unser Dim-Sum-Essen übersetzt sagt nun die Theorie: Die aktuelle Essgeschwindigkeit (V) ermittelt sich aus dem Produkt der maximalen Essgeschwindigkeit (Vmax) und der Gesamtzahl der Dim Sums in einer Schüssel (Substratkonzentration), geteilt durch die Summe von sogenannter Michaeliskonstante (eine für jeden Dim-Sum-Esser spezifische Zahl) und Substratkonzentration. Schwierig?

Kurze Probe aufs Exempel: Nehmen wir an, die Dim-Sum-Schüssel wäre leer, die Substratkonzentration also Null. Damit ist auch die Essgeschwindigkeit V gleich Null, logisch! Ansonsten hängt die Essgeschwindigkeit von der Konzentration der verfügbaren Dim Sums ab und ist zur Maximalgeschwindigkeit jedes Essers proportional, kann sie aber nicht überschreiten. Wenn ich also der netten Louiza 40 Dim Sums auf einmal serviere, würde sie dennoch nur vier pro Stunde schaffen. Klar? Das probiere ich gleich mal aus!

Ha, falsch gedacht! Gerade nimmt Louiza das sechste Dim Sum ... und strahlt mich an: »Eigentlich ist das viel zuviel!« Spricht das nun gegen die Michaelis-Menten-Beziehung? Nein, es schmeckt einfach zu gut! Da meint das hocheffektive, rundliche Willis-Enzym hurtig: »Kein Problem, Louiza, ich übernehme den Rest!«

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