Witzig und traurig

Maxim Gorki: »Das blaue Leben und andere Erzählungen«

  • Monika Melchert
  • Lesedauer: 3 Min.

Tausend Werst von Petersburg entfernt, in der russischen Provinz, spielt eine der schönsten frühen Erzählungen Gorkis: »Warenjka Ollessowa« (1895). Die zwanzigjährige Gutsbesitzertochter, eine lebenspralle, sinnliche Schönheit, fordert Ippolit Sergejewitsch heraus, den Gelehrten, der sich selbst immerzu beobachtet – und dabei nicht zum wirklichen Lebensgenuss kommt. Der Erzähler beschreibt ihn und Warenjka als einen so wunderlichen Gegensatz, dass wohl kein Paar aus ihnen werden kann: »Es lag etwas Blutdürstiges in den Wölbungen ihrer Nase und in den kleinen Zähnen, die hinter ihren saftigen Lippen leuchteten; und die Pose voll ungezwungenen Reizes erinnerte an die Grazie satter und verhätschelter Katzen.« Ihre unverblümte Aufrichtigkeit macht ihn unsicher. Er verflucht seine Gefühle, derer er nicht Herr wird, und bringt sich dabei um alles Schöne.

So wie hier, läuft in Maxim Gorkis Geschichten vieles auf einen Abgrund zu. Der Verlag Faber & Faber legt jetzt mit »Das blaue Leben und andere Erzählungen« eine Auswahl vor, die sich über einen Zeitraum von fast drei Jahrzehnten erstreckt. Es ist ein besonders schöner Band geworden, versehen mit 32 Federzeichnungen des Leipziger Meisters Karl-Georg Hirsch, der erneut unter Beweis stellt, wofür er seit langem bewundert wird: Mit dem feinen, spitzen Strich seiner Feder charakterisiert er die innersten Bewegungen der Figuren, die sich unter der Oberfläche abspielen, wie es sonst nur die Literatur mit Worten kann. Amüsant und hintergründig, witzig und traurig zugleich.

Maxim Gorki (1868-1936) ist einer der großen Menschenkenner der russischen Literatur, ein Spezialist der Seele durch und durch. Er, geboren in ärmsten Verhältnissen, hat sich mit unglaublicher Zähigkeit ein weites Panorama an Weltkenntnis angeeignet. Die frühen Erzählungen tragen noch einen Hauch der Welt Tschechows in sich, die russische Gesellschaft vor der Revolution von 1905, gleichermaßen von lasziver Lebensgier wie von Verfall gezeichnet. Die Widersprüche stoßen hart aufeinander. Viele Jahre lebt Gorki (ein Name, den er sich selbst gibt und der »der Bittere« bedeutet) im Ausland, insbesondere in Italien, kehrt jedoch immer wieder nach Russland zurück. Da ist er bereits ein weltbekannter Autor, sein Schauspiel »Nachtasyl« wird in vielen Ländern Europas gespielt. Wichtig an diesem Band von Erzählungen ist es, wieder einmal entdecken zu können, dass Gorki nicht darauf und auf seinen berühmten Roman »Die Mutter« zu reduzieren ist, schon gar nicht auf den Begriff des »sozialistischen Realismus«.

Die Titelgeschichte »Das blaue Leben« aus dem Jahr 1923 lässt den faszinierenden Erzähler in allen Facetten aufleuchten. Gebannt folgt man seinen Figuren, ihrer von innerer Spannung getragenen Suche nach einem sinnvollen Platz im Leben, die so oft scheitern muss. Konstantin Mironow verzehrt sich in Sehnsucht nach der blauen Stadt: »in einem blauen Dunst des Entzückens erstand vor ihm die wunderbare Stadt Paris«. Doch diesen Traum macht ihm der listige Tischler Kallistrat zunichte, eine skurrile Figur mit kupferrotem Bart, die Inkarnation des Teuflischen. Und im wirklichen Leben bleibt Mironow ein ängstlicher, verhuschter Kerl, mit dem man beinahe nur Mitleid haben kann. In den Halluzinationen seines kranken Kopfes stürzt eine ganze Welt zusammen.

Gorki macht das Abgründige, Unerklärliche im Menschen auf eine Weise sichtbar, wie es immer wieder nur die Kunst vermag. Ein großes Lesevergnügen.

Maxim Gorki: Das blaue Leben und andere Erzählungen. Mit zweiunddreißig Zeichnungen von Karl-Georg Hirsch. Aus dem Russischen von August Scholz, Erich Boehme, Bodo von Loßberg. Faber & Faber, 280 S., Leinen, 24 EUR.

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